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Thorsten Frei: Das Vorgehen der Türkei ist nicht verhältnismäßig

Rede zum Vorgehen der Türkei in Syrien

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 20. Januar 2018 begann die Invasion der Türkei in die Region um die Stadt Afrin in Syrien. Seit wir dies erleben, haben wir hier im Deutschen Bundestag eine Aktuelle Stunde und eine Vereinbarte Debatte dazu durchgeführt. Auch sonst haben wir über den Nahen Osten, über Syrien und im Speziellen über Afrin gesprochen. Ich will darauf hinweisen, dass alle unsere Redner klargestellt haben, dass das Vorgehen der Türkei nicht angemessen, nicht verhältnismäßig und deshalb auch ein Völkerrechtsbruch ist.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause – Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Aber kein Regierungsvertreter! Bis heute hat kein Regierungsvertreter dazu etwas gesagt!)

Es ist in der Tat so, dass es richtig ist, über Afrin zu sprechen; schließlich sagt die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, dass dort etwa 300 000 Menschen eingeschlossen sind. Der türkische Staatspräsident Erdogan sagt, dass dies eine saubere militärische Aktion sei.

(Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?)

Aber das stimmt nicht: Das, was Augenzeugen sagen, das, was Hilfsorganisationen sagen, ist, dass es tote Kinder und tote Zivilisten gibt, dass die Infrastruktur zerstört ist. Mehr als 30 Schulen und anderes mehr seien bombardiert worden. Deshalb ist vollkommen klar: Es ist ein Völkerrechtsbruch. Daran gibt es kein Vertun, und das müssen wir auch den Türken in aller Klarheit und Deutlichkeit sagen.

(Beifall im ganzen Hause)

Es ist nicht so – das weiß jeder hier –, dass man in Syrien Gut und Böse leicht trennen könnte. Natürlich stimmt es, dass die YPG auch mit der PKK zusammenarbeitet, dass man sich abspricht, dass Waffen ausgetauscht werden, dass es in Afrin und in benachbarten Kantonen, die von den Kurden bewohnt sind, oder dass es auch im Kandil-Gebirge im Nordirak PKK-Lager gibt, von wo aus Anschläge in der Türkei verübt werden. Ja, das ist alles richtig. Aber mit der Formel „Krieg gegen Terror“ kann man nicht alles rechtfertigen.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Hört! Hört!)

Insoweit gehen wir mit dem, was in den vier Anträgen steht, durchaus einig.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD, der FDP und der LINKEN)

Warum ist den Anträgen dann trotzdem nicht zu folgen?

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Jetzt sind wir gespannt!)

– Ja, das sage ich Ihnen gerne.

Erstens, weil Sie die Gesamtzusammenhänge im Nahen Osten und in Syrien insgesamt nicht sehen.

(Lachen bei Abgeordneten der AfD und der LINKEN)

– Ja, ich will Ihnen das gerne erläutern. – Sie müssen einfach einmal sehen, was dort los ist.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Sie haben es doch gerade beschrieben!)

– Jetzt hören Sie mir lieber einmal zu; sonst bestehe ich darauf, dass die Redezeit angehalten wird. Passen Sie auf!

Es ist tatsächlich so, dass wir ab dem Herbst 2014 einen einheitlichen Feind dort hatten, nämlich den IS. Das hat alle Kräfte zusammengeschweißt. Seit dieser Feind militärisch besiegt ist, sehen wir, dass es dort viele versteckte eigene nationale Agenden gibt, dass es tatsächlich so ist, dass der IS häufig Platzhalter für eigene Interessen war. Das bricht jetzt alles auf. Deswegen ist es ganz entscheidend, was man in einer solchen Situation erreichen kann.

Sie müssen sehen, dass die Kurden etwa 40 Prozent des Landes dort halten. Sie müssen die Rolle Russlands und Irans betrachten. Das müssen Sie in eine Gesamtbewertung mit einbeziehen; sonst kommen Sie nicht zu vernünftigen Ergebnissen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zweitens. Man braucht eine Lösung für die Zukunft. Es nützt doch nichts, jetzt laut zu schreien, ohne irgendetwas erreichen zu können. Was haben wir beispielsweise erreicht? Die Bundesregierung hat die von der Türkei gewünschte Aufrüstung ihrer Panzer gestoppt.

(Zuruf des Abg. Tobias Pflüger [DIE LINKE])

Wir haben daran gearbeitet, eine einheitliche Haltung Europas zustande zu bringen. Das Ganze ist bei der UN thematisiert worden, und Deutschland hat dieses Thema zweimal in einen informellen NATO-Rat gebracht. Das können Sie doch nicht übersehen. Sie fordern, dass es in einen formellen NATO-Rat geht. Dabei müssten Sie eigentlich wissen, dass das nur einstimmig funktioniert. Deshalb ist das, was Sie in Ihren Anträgen fordern, Wolkenschieberei. Das hat nichts mit der Realität zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns fragen: Was kann man in einer solchen Situation tun? Es ist richtig, im NATO-Rat darüber zu sprechen. Das, was die Türkei tut, hat nichts mit dem Werteverständnis zu tun, das unserer Ansicht nach die NATO eint. Es ist außerdem klar, dass die konkrete Gefahr besteht, dass dort die NATO-Partnerländer Türkei und USA aufeinandertreffen und ein größerer Schaden entstehen kann. Da brauchen wir eine Lösung. Gerade vor dem Hintergrund, dass Präsident Erdogan vor vier oder fünf Tagen angekündigt hat, dass er einen durchgängigen Sicherheitspuffer an der südlichen türkischen Grenze von Afrin in den Nordosten ziehen möchte, muss klar sein: Wir brauchen jetzt Lösungen, die greifen. Deshalb müssen wir die Türkei daran erinnern, dass der Waffenstillstand der UN, die Resolution 2401, auch für sie gilt.

Wir müssen aber auch überlegen, welche Lehren wir daraus ziehen können. Das bedeutet, dass unter Wahrung der Sicherheits- und Souveränitätsinteressen der Türkei auch der Friedensprozess zwischen Türken und Kurden in der Türkei wieder aufgenommen werden muss. Das ist die Grundvoraussetzung für eine politische Lösung.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Dafür muss man die Angriffe stoppen!)

Was Syrien betrifft, ist, glaube ich, klar – das ist mein letzter Satz, Herr Präsident –, dass es nicht ausreicht, Lippenbekenntnisse zu liefern.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Am Ende des Tages kommt es auf nachvollziehbares Handeln an. Das werden wir am besten in einem europäischen Kontext schaffen. Damit sind Sie doch sicherlich einverstanden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)