Skip to main content

Michael Brand: Humanitäre Hilfe darf nicht zum Alibi der Staatengemeinschaft verkommen

Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung Außen, Europa und Menschenrechte

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inferno in Syrien, Krieg im Jemen, die Situation in der Ostukraine, humanitäre Krisen, Gewalt gegen Minderheiten, aktuell wieder gegen die Jesiden in den kurdischen Gebieten Syriens, gegen Muslime, gegen die Rohingya in Myanmar, gegen Christen weltweit, die massive Einschränkung von Religions- und Meinungsfreiheit, von bürgerlichen Rechten in der Türkei, in Russland, in China und anderswo. Wo soll man eigentlich zuerst hinschauen? – Die weltweit größte humanitäre Krise spielt sich seit Jahren vor den Augen der Welt im Jemen ab – seit über 1 000 Tagen mit Tausenden von Toten und Millionen von vertriebenen Menschen. Deutschland leistet viel Unterstützung im Jemen, aber auch anderswo. Viele, die bedroht sind, setzen ihre Hoffnung auf unser Land mit seiner großen Menschlichkeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu lange wurde auch bei uns ignoriert – die Bundeskanzlerin hat das heute in ihrer Regierungserklärung gesagt –, dass die Krisen der Welt sehr schnell vor unserer Haustür landen. Die Mittel für die humanitäre Hilfe wurden innerhalb der letzten fünf Jahre auf mittlerweile 1,7 Milliarden Euro aufgestockt. Eine andere Zahl lässt einem das Blut in den Adern gefrieren: Der Bedarf an humanitärer Hilfe hat sich seit dem Jahr 2000 von 2 Milliarden US-Dollar auf über 20 Milliarden US-Dollar mehr als verzehnfacht.

Die Zahlen zeigen, dass es nie mehr Menschen auf diesem Planeten gab, die auf Hilfe zum Überleben angewiesen waren. Es waren vor über zehn Jahren über 30 Millionen Menschen, und heute sind es mehr als 125 Millionen Menschen. Über 65 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Das sind so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Hinter diesen nackten Zahlen verbergen sich das bittere Schicksal von Frauen, Männern und Kindern und ein Elend biblischen Ausmaßes.

Herr Schmid hat die finanziellen Mittel und auch das, was uns in den Haushaltsberatungen bevorsteht, angesprochen. Wir dürfen uns nichts vormachen: Trotz dieser enormen Anstrengung wird unser Einsatz nicht ausreichen. Das gilt erst recht für andere Länder. Deshalb will ich warnen: Die humanitäre Hilfe darf nicht zum Alibi der Staatengemeinschaft verkommen, Konflikte nicht zu lösen. Das ist nämlich die Aufgabe der internationalen Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wenn Menschen sich auf den Weg machen, dann hat das Gründe. Schon viel zu lange werden die Zustände in Syrien, Russland und der Türkei akzeptiert.

Schauen wir in die Türkei: Was die Truppen Erdogans gerade in Syrien anrichten, ist eindeutig ein Bruch des Völkerrechts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dabei spielt es keine Rolle, wie lange sie dort sind und ob Erdogan die Drohung wahrmacht, auch woanders einzumarschieren. Im Übrigen: Ich habe aktuell mit Opfern, die jetzt gerade in Afrin sind, mit Jesiden, gesprochen. Sie sagen: Auch die YPG nimmt uns als Schutzschild, wir können nicht hinein und nicht hinaus. – Wir dürfen bei Menschenrechtsverletzungen nicht auf einem Auge blind sein. Wir müssen beides für die Opfer ansprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen, Frau Hänsel: Ihre Rede wird Putin sehr gefallen haben. Wie krank ist das eigentlich, dass Sie die Frage zum Giftanschlag in Großbritannien an uns richten, dass Sie diese an uns, Deutschland, sowie Großbritannien und Frankreich adressieren? An Russland müssen Sie diese Frage adressieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Beweislastumkehr machen Sie hier!)

Das ist doch eine völlig verkehrte Sicht, die Sie hier präsentieren.

Die UN hat gestern einen Türkei-Bericht veröffentlicht und wirft der Erdogan-Regierung dramatische Verletzungen der Menschenrechte, die massive Einschränkung der Versammlungs-, Bewegungs- und Meinungsfreiheit, die Verantwortung für willkürliche Festnahmen, Misshandlungen und Folter vor. Mitglieder – mal zuhören – des Sicherheitsapparates prügelten Gefangene, drohten mit sexueller Gewalt, vergewaltigten ihre Opfer und quälten Menschen mit Elektroschocks und dem sogenannten Waterboarding; das hat die UN gestern in ihrem Bericht veröffentlicht.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte berichtet sogar von Inhaftierungen von rund 100 schwangeren Frauen sowie von Müttern, die frisch entbunden haben. Die meisten Frauen sind im Übrigen aufgrund von Vorwürfen gegen ihre Männer in Haft. Vielfach wurden sie von ihren Kindern getrennt. Ich sage: Krasser geht es nicht! Es braucht Konsequenzen im Zusammenhang mit der Türkei. Es reicht nicht aus, zu sagen: Das ist ein Bruch des Völkerrechts.

Der Europäische Rechnungshof hat in dieser Woche deutlich gemacht, dass die EU-Kommission mit den Geldern nicht ordentlich umgeht, dass Bedingungen nicht gestellt werden. Deshalb müssen wir bei den Heranführungshilfen – diesen Hebel versteht Erdogan – sehr deutlich machen,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

dass wir das Geld nicht an die Regierung geben. Wir dürfen aber auch die Tür nicht zuschlagen und müssen gerade in dieser Phase die Zivilgesellschaft unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen darf das Geld nur zielgerichtet in Projekte zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, der Pressefreiheit und der Zivilgesellschaft gegeben werden.

Ich will noch einen Punkt nennen. Es wäre sehr naiv, zu glauben, dass, wenn wir an diesen Punkten, die ich gerade genannt habe, zurückweichen, Afrin der letzte Fall sein wird. Vielmehr wird unsere Schwäche einladen.

Ich will eine letzte Bemerkung zur Delegationsreise der AfD machen. Herr Weyel, Sie haben über die „Reisegruppe Damaskus“ nichts gesagt. Diese Bezeichnung hört sich plakativ an, aber das, was Sie sich dort geleistet haben, möchte ich ansprechen. Herr Gauland hat gesagt: Na ja, das ist ja eine Privatreise. – Das muss man sich einmal vor Augen halten. Eine Privatreise von Landtags- und Bundestagsabgeordneten nach Syrien!

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist so!)

Herr Baumann, Ihr Erster Parlamentarischer Geschäftsführer, hat diese Reise heute im Innenausschuss verteidigt. Tun Sie doch nicht so, als ob Sie nicht dahinter stehen würden!

(Beifall bei der CDU/CSU – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Fahren Sie doch auch mal hin!)

Ich sage Ihnen: Wer, während in Syrien bombardiert wird, Giftgas eingesetzt wird

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Was soll denn der Quatsch?)

und Menschen abgeschlachtet werden, zu diesem Regime, zur Täterclique, fährt

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wir fahren nicht zu dem Regime! Wir gucken uns das an! Ihr beschließt Dinge, die ihr gar nicht seht!

und sich wie Schuljungen neben einen radikalen Großmufti lächelnd vor das Bild von Assad, das an der Wand hängt, stellt, –

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Gott sei Dank!)

Michael Brand (Fulda) (CDU/CSU):

– zieht den guten Namen Deutschlands, unseres Landes, in den Dreck.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Hören Sie doch auf mit dem Quatsch, Herr Abgeordneter!)

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten. Sie müssen jetzt zu Ende kommen. Sprechen Sie bitte Ihren letzten Satz.

Michael Brand (Fulda) (CDU/CSU):

Lassen Sie mich schließen: Ich freue mich – ich sage das für die CDU/CSU – im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf die Zusammenarbeit mit dem neuen Bundesaußenminister und mit dem wiedergekehrten Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Lassen Sie uns gemeinsam streiten für eine werteorientierte Politik,

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ach, hören Sie auf mit dem Unsinn!)

für Menschenrechte, die universell gelten – nicht, wie Sie es gesagt haben, nur für die, die Ihnen passen. Menschenrechte gelten universell. Lassen Sie uns gemeinsam etwas daraus machen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Mein Gott!)