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Christian Hirte: Bei der Angleichung der Lebensverhältnisse sind wir weit vorangekommen

Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2018

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern hat das Bundeskabinett den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 2018 verabschiedet. Ich berichte Ihnen heute gern und vor allem über die Fortschritte, die Deutschland auf dem Weg zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in Ost und West gemacht hat.

Gestern hat die Bundesregierung ein Signal für den Osten ausgesendet. Es traf sich der Kabinettsausschuss „Neue Länder“. Zum ersten Mal seit über 15 Jahren hat dieser Ausschuss wieder getagt. Nahezu alle Ressorts sind daran beteiligt, um über wichtige Themen abzustimmen, die den Osten betreffen. Dass der Ausschuss zusammengekommen ist, ist ein Beleg dafür, dass die Regierung die Entwicklung in den neuen Bundesländern ernst nimmt. Ich danke insbesondere Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie sich dieser Sache angenommen und dieses sichtbare Zeichen gesetzt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit stellen wir als Regierung insgesamt die neuen Länder in den Fokus unserer Aufmerksamkeit.

Zudem nahm ebenfalls gestern die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ihre Arbeit auf. Hier werden bis Ende nächsten Jahres auf vielen Themenfeldern Vorschläge entwickelt, wie wir dem Anspruch auf Gleichwertigkeit in allen Regionen nachkommen können. Dazu gehört unter anderem ein Fördersystem, bei dem wir künftig nicht mehr nach der Himmelsrichtung, sondern nach tatsächlicher Bedürftigkeit entscheiden wollen. Dabei werden selbstverständlich für die neuen Bundesländer ganz wichtige Weichen gestellt, die uns über viele Jahre begleiten werden.

Ich halte die Kommission übrigens auch deshalb für wichtig und richtig, weil sie schon im Namen deutlich macht, dass es nicht um Gleichheit geht. Auch in der Debatte Ost/West sollten wir nicht den Eindruck erwecken, dass alles überall gleich sein sollte. Es geht darum, dass die Lebensbedingungen überall gut sind. Verschiedenheit ist für sich nicht schlimm, sie prägt geradezu unser Land; es darf aber am Ende niemand abgehängt werden.

Mit dem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit werfen wir einen Blick jenseits der tagesaktuellen Wellen auf die grundsätzlichen Entwicklungen im Osten Deutschlands: auf die Herausforderungen, auf die Erfolge, aber eben auch auf die offenen Fragen. Insgesamt haben wir dabei – das ist mir wichtig zu betonen – mehr Grund zu Stolz auf das Erreichte als Grund zu Skepsis oder Verdruss. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im ganzen Land, gerade auch im Osten, sind besser als je zuvor. Mir ist es wichtig, dass wir den Osten nicht in erster Linie als abgehängten Exoten betrachten, als Anhängsel oder als Problemfall. Deutschland ist ohne den Osten überhaupt nicht denkbar. Ich glaube, gerade wir Ostdeutsche haben allen Grund, mit großem Selbstbewusstsein unsere eigene Geschichte, Kultur und Tradition in den Blick zu nehmen, weil diese unser Land ganz entscheidend mitgeprägt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage daher ganz klar: Wenn wir in der Politik als mediale Kommunikatoren nicht positiv über den Osten sprechen, tun das wenige andere.

Einige Regionen im Osten haben inzwischen aufgeschlossen zu erfolgreichen europäischen Regionen in Frankreich oder Großbritannien; gegenüber dem wirtschaftlich auch im europäischen Vergleich erfolgreichen Westen unseres Landes besteht nach wie vor ein Rückstand. Aber es ist ja auch nichts dagegen einzuwenden, dass wir im Westen eine große, eine positive wirtschaftliche Dynamik haben. Davon profitieren wir am Ende natürlich im ganzen Land.

Der Abstand nach dem Zusammenbruch der maroden ostdeutschen Kombinatswirtschaft hat heute vor allem strukturelle Ursachen. Da muss ich vor allem die demografische Entwicklung nennen, die in den ostdeutschen Flächenländern das Wachstum dämpft. Der Bevölkerungsrückgang im Osten, der ja massiv war – teilweise bis zu 31 Prozent –, kann schlicht nicht kompensiert werden, wenngleich mittlerweile dieser Abwärtstrend glücklicherweise gestoppt ist. Berlin legt bei der Einwohnerzahl mittlerweile deutlich zu, und Brandenburg kann davon im Speckgürtel etwas profitieren.

In der Gesamtschau sehen wir also einen positiven Trend. Die Wirtschaftsleistung der ostdeutschen Länder hat sich seit der Wiedervereinigung mehr als verdoppelt. Die Zahl der Erwerbstätigen sowie das durchschnittliche Einkommen sind erheblich gestiegen, die Arbeitslosigkeit ist spürbar gesunken. In den neuen Ländern ist die Arbeitslosenquote zwölf Jahre in Folge gefallen – auf den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Während wir vor zehn Jahren im Osten noch eine um 10 Prozentpunkte höhere Arbeitslosigkeit als im Westen hatten, sind wir heute bei einem Unterschied von 2 Prozentpunkten. Wir sind also mittlerweile in vielen Regionen auf Augenhöhe mit dem Westen.

Allerdings gehört zur Wahrheit, dass mittlerweile die Annäherung stagniert, dass wir nicht mehr so stark vorankommen wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Zu stark wirken inzwischen die Hemmnisse der von mir schon angesprochen Demografie. Offen gesprochen wird sich das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren eher weniger stark entwickeln als in den alten Bundesländern. Für den Einzelnen muss dies überhaupt kein Nachteil sein, weil der Wettbewerb um die zurückgehende Zahl der Arbeitskräfte eher intensiver wird. Das wird auch in der Zukunft dazu führen, dass wir im Osten überproportional steigende Löhne und Gehälter und überproportional steigende Renten haben werden. Die Situation für die Bürger in den ostdeutschen Bundesländern wird sich also auch in den nächsten Jahren nicht verschlechtern, sondern weiter überproportional verbessern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es hat sich mittlerweile eine Unternehmenslandschaft herausgebildet, die in der Lage ist, diese höheren Löhne zu bezahlen. Große Unternehmen finden wir leider noch selten, aber was wir mittlerweile im Osten haben, ist ein gut ausgeprägter Mittelstand. Nicht wenige dieser Unternehmen sind mittlerweile international wettbewerbsfähig, manch eines zählt sogar zu den sogenannten Hidden Champions, Marktführern im globalen Wettbewerb, etwa im Bereich Photonics, im Bereich des Leichtbaus, der Mikroelektronik oder auch der Chemie. Anders als vor vielen Jahren sehen wir zwischenzeitlich auch, dass Unternehmen aus dem klassischen Mittelstand herauswachsen, dass sie größer werden. Das Fundament vieler Unternehmen im Osten ist in den letzten Jahren deutlich stabiler geworden. Die aus dem Fehlen der großen Global Player resultierende Kleinteiligkeit ist neben dem bereits erwähnten demografischen Problem aber eines der Hauptentwicklungshindernisse.

Natürlich liegen nicht alle strukturschwachen Regionen Deutschlands im Osten. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Ost und West, nämlich dass der Osten nahezu flächendeckend strukturschwach ist. Hier sehe ich auch in der Zukunft weiteren Handlungsbedarf.

Schon bisher fördert die Bundesregierung die neuen Bundesländer in vielfältiger Weise. Sie konzentriert sich insbesondere auf die Mittelstandsförderung, also auf das, was in der Fläche des Landes vorhanden ist, und auf die Unterstützung von Gründern. Wir setzen dort an, wo es Wachstumsstrukturen gibt – und diese Pflänzchen sind heute deutlich kräftiger als noch vor wenigen Jahren. Wir engagieren uns auch stark bei Großansiedlungen, etwa bei der Ansiedlung von Mikroelektronik in Dresden oder – wie kürzlich – bei der Ansiedlung einer Batteriezellproduktion am Erfurter Kreuz in Thüringen. Auch künftig sehe ich im Osten Potenziale, die wir im Westen nicht haben, schlicht etwa aus der Tatsache heraus, dass noch große Flächen zur Verfügung stehen. Wir haben im Osten eine höhere Bereitschaft für industrielle Ansiedlungen und Infrastrukturprojekte. Wirtschaftlich sind wir bei allen Unterschieden und Problemen also auf einem guten Weg.

Was wir aber zugleich feststellen, ist eine größere Distanz in gesellschaftspolitischen Fragen. Das ist nicht allein eine Frage zwischen Ost und West; in der gesamten Gesellschaft nehmen wir Spannungen wahr. Gerade dieser Tage ist es notwendig, deutlich zu machen, wo wir als Gesellschaft Stoppschilder setzen, wenn es etwa darum geht, dass in den öffentlichen Debatten mit hassvollen Stimmen argumentiert wird, wenn Gewalt ausgeübt wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, wir haben im Osten statistisch gesehen größere Probleme mit Extremismus. Herr Bundestagspräsident Schäuble, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass Sie keine großen Unterschiede zwischen der Situation in Köthen und in Kandel sehen. Die Berichterstattung in unserem Land erweckt aber häufig den Eindruck, als wenn alle im Osten rechtsradikal wären. Das ist mitnichten der Fall. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mehrheit der Menschen in unserem Land – auch und gerade im Osten – nichts zu tun haben will mit Demonstranten, die den Hitlergruß zeigen, die Gewalt ausüben, die in den Straßen Nazisprüche rufen wie in Dortmund oder jüdische Geschäfte angreifen –

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der AfD und der FDP)

genauso wenig wie mit Linksradikalen, die marodierend durch Hamburg ziehen.

Manche Menschen sehen sich aber trotzdem als Bürger zweiter Klasse, als abgehängt, fragen nach ihrer Position in der Gesellschaft. Im Osten ist dies noch ein Stück ausgeprägter. Wir erleben, dass die großen politischen Themen unserer Zeit im Osten oft anders diskutiert, manchmal auch anders gesehen werden als im Rest der Republik. Differenzen, die wir in ganz Europa wahrnehmen, ziehen sich ein Stück weit auch durch unser Land. Nicht alles können wir dabei mit 40 Jahren SED-Diktatur erklären, sondern hier wirken die Erfahrungen der 90er-Jahre noch immer nach. Nicht alles, was in dieser Zeit geschah, war nur segensreich. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Antwort auf die Unzufriedenheit vieler Menschen genau hier ansetzen muss, wenn wir wollen, dass die solidarischen Anstrengungen aller in Deutschland am Ende eben auch gesellschaftspolitische Früchte tragen. Als Ostbeauftragter möchte ich deshalb neben der Erinnerungsarbeit zur Geschichte der SED-Diktatur auch die Geschichte nach der Wiedervereinigung in den Blick nehmen, etwa mit einem Forschungsprojekt zur Arbeit der Treuhandanstalt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Der diesjährige Bericht zum Stand der deutschen Einheit zeigt, dass wir bei der Angleichung der Lebensverhältnisse insgesamt weit vorangekommen sind. Es hat sich aber trotzdem ein Gefühl von Ungerechtigkeit breitgemacht. Ich erlebe, dass dieses Phänomen aus der Sicht vieler Westdeutscher völlig unverständlich ist. Das erklärt auch so manche oberlehrerhafte Reaktion in der Öffentlichkeit.

Vergessen wird dabei, dass die Menschen in Ostdeutschland einen kompletten Umbruch ihrer Lebenswirklichkeit hinter sich haben, der eben auch Spuren hinterlassen hat. Das wird oft nicht gesehen. Ich verstehe, dass viele Menschen in Ostdeutschland das Gefühl haben, mit ihren persönlichen Erfahrungen nicht genügend respektiert und wahrgenommen zu werden. Dabei meine ich eben nicht allein die Erfahrungen vor 1989, sondern ausdrücklich auch die danach.

Ich verstehe mein Amt als Ostbeauftragter als Auftrag, dem Osten eine Stimme zu geben und auch dessen Besonderheiten Gehör zu verschaffen. Das ist auch nötig. Schauen Sie sich an, wie derzeit Positionen in Führungsebenen in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gesellschaft, ja auch in den Medien besetzt sind. Hier kann man von keiner repräsentativen Vertretung Ostdeutscher sprechen. Wir können nun lange diskutieren, wie es zu diesem Phänomen gekommen ist. Fakt ist jedoch, dass die spezifischen Sichtweisen Ostdeutscher dann häufig nicht hinreichend zum Tragen kommen, und das ist auch spürbar. Es geht mir deswegen vor allem auch darum, ostdeutsche Interessen nachdrücklich zu vertreten: in der Öffentlichkeit und in der Bundesregierung.

Beispiele für diese praktische Interessenvertretung sind für mich etwa die Ansiedlung des neuen Bundesfernstraßenamtes in Leipzig oder die Vergabe des Kompetenzzentrums Wald und Holz nach Mecklenburg-Vorpommern. Ich bin sehr dankbar, dass die ersten Behördenentscheidungen unserer Regierung genau dieses positive Zeichen für den Osten gesandt haben. Ich bin ausdrücklich auch Andreas Scheuer dankbar, der sich im Vorfeld der Entscheidung meinem Wunsch entsprechend mit mir abgestimmt und mich eingebunden hat.

Ansiedlungen dieser Art geben mehr als einen wirtschaftlichen Impuls. Sie senden das Signal, dass es der Bund ernst meint mit seinem Engagement für den Osten und auch damit, der Strukturschwäche des Ostens entgegenzuwirken, nicht nur mit Worten, sondern auch mit ganz praktischem Handeln.

Ich wünsche mir außerdem, dass die neuen Bundesländer in Zukunft auch bei weiteren Behörden oder zukunftsgerichteten Modellprojekten stärker berücksichtigt werden. Horst Seehofer hat es als Ministerpräsident mit dem Heimatministerium in Bayern geradezu beispielhaft vorgemacht, wie man Dezentralisierung in den Blick nehmen und positive Impulse für die Fläche des Landes setzen kann.

Insoweit freue ich mich sehr, dass gestern auch der Kabinettsausschuss „Neue Länder“ getagt hat. Dort habe ich die Mitglieder des Kabinetts genau auf diesen Dreiklang angesprochen: Behörden, Modellprojekte und Repräsentanz. Ich habe deutlich gemacht, dass ich allen Ministerinnen und Ministern im positiven Sinne auf die Nerven gehen werde, um dieses Thema weiter voranzubringen.

Ich denke, wenn wir uns in diesem Sinne weiter gut koordinieren, abstimmen und nach vorne arbeiten, dann haben wir gute Chancen, zu den Signalen, mit denen wir jetzt begonnen haben, auch künftig positive Impulse für die neuen Bundesländer zu setzen. Ich glaube, wir alle haben in den nächsten Jahren keinen Mangel an Arbeit, um uns hier weiter zu engagieren; ich ganz sicher nicht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)