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Sebastian Brehm: "Wir stehen an der Seite dieser mutigen Frauen"

Aktuelle Stunde | Angriff auf die Menschenrechte in der Türkei

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtslage in der Türkei ist mehr als besorgniserregend. Insbesondere seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat sich die Lage noch einmal deutlich verschlechtert. Die damaligen Notstandsregelungen wie drastische Einschränkungen des Versammlungsrechts, Polizeigewahrsam, Entlassungen aus dem Staatsdienst und vieles, vieles mehr wurden in der Zwischenzeit sogar in ordentliche Gesetze überführt.

Regierungskritiker sind von Strafverfolgung und Verhaftung bedroht – es gibt ja einige, die seit langer Zeit inhaftiert sind –, und der Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz wurde heute schon besprochen. Regierungskritische Demonstrationen werden verboten. Der Großteil der türkischen Medien ist von der Regierung abhängig. Seit dem 1. Oktober 2020 gibt es noch zusätzlich ein Gesetz, das Sperrungen von Internetplattformen ermöglicht, wenn auf diesen kritische Inhalte veröffentlicht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch um die Religionsfreiheit steht es nicht gut. Nichtsunnitische und nichtislamische Gruppen haben keinen rechtlich gesicherten Status in der Türkei.

Der aktuelle Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen zeigt deutlich die Verschärfung der Lage in der Türkei auf. Frauen sind wirtschaftlich, sozial und politisch die Leidtragenden in der Türkei. Häusliche Gewalt und Frauenmorde sind zudem nach wie vor ein großes Problem im Land. Allein im vergangenen Jahr wurden über 400 Frauen ermordet. Mit der Abkehr von der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen wird dieses wichtige Übereinkommen beendet, welches die verbindlichen Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen darstellt.

In den letzten Wochen sind, ähnlich wie in Belarus, mutige Frauen auf die Straße gegangen, um dagegen zu protestieren. Ich kann von dieser Stelle bloß sagen: Wir stehen an der Seite dieser mutigen Frauen. Sie machen Hoffnung auf eine neue Türkei. Sie machen Hoffnung auf eine demokratische Gesellschaft in der Türkei. Deswegen stehen wir an ihrer Seite.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Und Erdogan setzt sein Ziel unvermindert fort, Schritt für Schritt, nämlich das Land in eine patriarchale Gesellschaft zurückzuführen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einer solchen Debatte muss man aber auch mal gucken, wann die Warnungen im Hinblick auf den Präsidenten angefangen haben. Damals in der Diskussion hier im Deutschen Bundestag, 2003/2004, als es um die Verhandlungen über den Beitritt der Türkei in die EU ging, haben die Abgeordneten Angela Merkel, Friedbert Pflüger und Gerd Müller gewarnt und gesagt: Die angeblichen Fortschritte in der Türkei sind nicht mal das Papier wert, auf dem sie stehen. – Das muss man in dieser Diskussion auch mal sehen.

Herr Kollege Özdemir, Sie fordern, zu handeln und nicht nur zu reden. Es lohnt sich daher, die Beiträge zur damaligen Debatte noch einmal nachzulesen. Damals haben die Grünen – Ludger Volmer und Christa Nickels – sich entsetzt über unsere Warnungen geäußert. Ich darf aus der Rede von Christa Nickels in dieser Debatte im Jahr 2004 zitieren:

Ich kenne weltweit keinen zweiten Staat, der in einer derartigen Kraftanstrengung von Regierung, Verwaltung und anderen ... Organisationen in nur zwei Jahren die gesamte Gesetzeslage umgekrempelt hat … Deshalb ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar … dass Sie gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, mit dieser Art von Bedenkenträgerei anfangen.

Das ist die Wahrheit aus 2004.

(Widerspruch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie also von Reden und Handeln sprechen, dann müssten Sie jetzt auch fordern, dass man die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufkündigt und beendet. Aber das tun Sie nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der AfD und der FDP)

Deswegen sollten Sie handeln und gleichzeitig reden.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wie handelt denn Ihre Regierung?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den bevorstehenden Gesprächen des Europarats auf Ebene der EU müssen wir weiterhin unermüdlich und mit allem Nachdruck auf die Lage der Menschen und die schweren Menschenrechtsverstöße in der Türkei aufmerksam machen.

(Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Dann tun Sie es doch!)

– Natürlich. Das tun wir ja von hier.

(Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Jeden Tag!)

Es sind schwierige Verhandlungen mit dem notwendigen Ziel, natürlich auf der einen Seite politische Stabilität in Europa zu haben und auch die Frage der Migration zu lösen und auf der anderen Seite dennoch politische und wirtschaftliche Konsequenzen bezüglich der zahlreichen Menschenrechtsverstöße zu diskutieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht wegsehen. Wir dürfen auch nicht alles akzeptieren. Es braucht – das wurde heute in der Debatte ja diskutiert – klare Grenzen, und diese werden wir aufzeigen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)