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Frank Heinrich: Es ist ein guter Tag für globale soziale Rechte

Redebeitrag zur Revision der Europäischen Sozialcharta

Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner hat man manchmal die Chance, den Blumenstrauß zusammenzufassen. Vieles wurde bereits gesagt; auch wenn die 60, 80 Seiten dieses – wie Sie, Frau Kollegin, gerade gesagt haben – abstrakten und technischen Werkes in einer halben Stunde natürlich nicht debattierbar sind.

Für mich als Sozialpolitiker, aber auch als Menschenrechtspolitiker ist wichtig: Wir stimmen heute über die Ratifizierung der Revidierten Europäischen Sozialcharta ab. Ich halte das für einen Erfolg. Wenn man der letzte Redner ist, dann kann man – sie kennen das von Google und sonstigen Maps – noch einmal herauszoomen und das Werk von oben betrachten. Ich bin sehr dankbar, dass wir das heute machen; auch wenn der eine oder andere sagt: „Das hätte schneller gehen können“ oder: Wir hätten das überhaupt nicht machen sollen.

Drei Gedanken dazu:

Erster Gedanke: Warum ist das gerade aus menschenrechtlicher Sicht ein Erfolg? Die Charta wurde, wie wir jetzt mehrfach gehört haben, 1961 vom Europarat initiiert – viele von uns im Haus sind dort Stellvertreter; Sie auch, Herr Kleinwächter – und von der Mehrheit der Mitglieder dort beschlossen. Das ist ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen und garantiert der Bevölkerung innerhalb der Unterzeichnerstaaten und damit allen, die es unterzeichnen, nicht nur den EU-Staaten, umfassende soziale Rechte. 1965 ist es in Kraft getreten. 1969 wurde die heute vorliegende revidierte Fassung ausgearbeitet,

(Andrej Hunko [DIE LINKE]: 1996!)

die dann 1999 in Kraft trat und seither gültig ist.

Die Europäische Sozialcharta garantiert die in der Europäischen Menschenrechtskonvention – für die wir alle, die wir dieses Haus repräsentieren, hoffentlich stehen – nicht festgehaltenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und ist somit in gewisser Hinsicht das europäische Pendant zum Internationalen Pakt der UN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Die Europäische Sozialcharta ergänzt die Europäische Menschenrechtskonvention – dafür schlägt mein Herz als Menschenrechtler –, die viele Freiheitsrechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit garantiert, aber wenige soziale Rechte. Diese Charta bindet die Vertrags- und Mitgliedstaaten des Europarates an die darin verankerten sozialen Menschenrechte. Es geht also darum, den Grundwasserspiegel für die Rechte zu heben, die bis jetzt noch nicht ausreichend repräsentiert sind. Mit der Ratifizierung erkennt Deutschland diese an und wird seiner Rolle als Vorbild für europäische Arbeits- und Sozialstandards gerecht – mit Maß und Mitte, wie mein Kollege Peter Aumer vorhin gesagt hat. Einer der Gründe dafür, warum es so lange gedauert hat, ist, dass wir uns so lange nicht auf diesen Kompromiss einigen konnten.

Der zweite Gedanke: die Bedeutung der Europäischen Sozialcharta im europäischen und internationalen Kontext. Die Vertragsstaaten des Europarates – das sind mehr als die 27 – haben sie zu beachten. Wenn Verstöße festgestellt werden, dann hat sie zwar nicht die gleiche Bindungswirkung wie zum Beispiel Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes. Die Ratifizierung bedeutet auch nicht automatisch – ich glaube, das haben Sie von der AfD nicht richtig verstanden –, dass die sozialen Menschenrechte auch tatsächlich umgesetzt sind. Umgekehrt gibt es in manchen Staaten, die die Charta nicht ratifiziert haben, sogar höhere Arbeits- und Sozialstandards. Trotzdem steht diese Charta für einen sozialpolitischen Rechtsrahmen, der nach dem Ausschöpfen nationaler Rechtsmittel einen internationalen Beschwerdeweg möglich macht. Damit erhöhen wir den Grundwasserspiegel.

Mit der Ratifizierung gehen Berichtspflichten, Follow-up-Verfahren einher, in denen dargelegt werden muss, was bei Verstößen konkret zur Behebung unternommen wurde. Wir sind rechenschaftspflichtig. Wir erwarten hin und wieder von anderen Ländern – auch in unserem Umfeld, auch in der EU –, Rechenschaft für das abzulegen, was sie versprochen, aber nicht gemacht haben. Damit verpflichten wir uns ebenfalls dazu.

Ein Beispiel für die Bedeutung dieser Charta aus der jüngeren Zeit ist Frankreich. Mitte 2019, letztes Jahr, wurde nicht zuletzt auf Druck des Europarates und anderer Vertragsstaaten und mit Berufung auf diese Charta das sogenannte Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern, das noch aus dem 19. Jahrhundert stammte, untersagt. Sehr wohl getan!

Dritter Gedanke: Die Europäische Sozialcharta ist ein Baustein für die Durchsetzung globaler sozialer Rechte. Als Menschenrechtspolitiker – das habe ich gerade gesagt – beschäftigen uns transnationale Unternehmen und internationale Organisationen und auch, wie diese rechtlich und politisch zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie demokratische oder menschenrechtliche Standards verletzen. Zu diesen Standards gehören auch die Rechte, die im UN-Sozialpakt und in der Europäischen Sozialcharta verankert sind. Deshalb unterstütze ich dankbar jede Stärkung der Europäischen Sozialcharta ausdrücklich. Das hat perspektivisch Implikationen für stärkere globale soziale Rechte weit über unseren Mitgliedstatus und den der Mitgliedstaaten hinaus.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin der festen Überzeugung – ich habe gerade gesagt: wir zoomen aus –, dass der Grundwasserspiegel generell gehoben werden kann. Zoomen wir wieder hinein, raus aus der Abstraktheit: Viele Einzelne können sehr wohl davon profitieren: mit Klagerechten oder auch weil ihre persönlichen Lebensbedingungen in den Ländern verbessert werden.

Deshalb halte ich es für einen guten Tag: zum einen für den Zusammenhalt in der EU – das haben Sie gerade vorhin gesagt – und zum anderen für globale soziale Rechte, auch wenn wir noch nicht fertig sind.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])