Skip to main content

Sylvia Pantel: "Die Ratifizierung eines Abkommens verhindert keine Gewalt an Frauen"

Aktuelle Stunde | Angriff auf die Menschenrechte in der Türkei

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention wird jetzt international in Medien und Politik zu Recht beklagt. Die Türkei hatte die Istanbul-Konvention als erster Staat bereits am 14. März 2012, also noch vor Inkrafttreten, ratifiziert und ließ sich dementsprechend feiern. Trotzdem blieb in Teilen des Landes die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor ein großes Problem.

Dieses eigentliche Problem, die Gewalt gegen Frauen, hat sich durch den seinerzeitigen Beitritt des Landes offensichtlich nicht gebessert. Die niedrigsten Zahlen hatte die Türkei im Jahr 2012, als die Regierung eine Nulltoleranzkampagne zu Gewalt gegen Frauen gestartet und durchgesetzt hat; also es wäre gegangen. Doch schon kurz nach der Kampagne stiegen die Zahlen von Gewalttaten und Morden an Frauen wieder an.

Die Istanbul-Konvention, die im August 2014 in Kraft trat, wurde durch Deutschland im Oktober 2017 ratifiziert. Damals kam der Vorwurf auf, Deutschland hätte die Konvention schon viel, viel früher ratifizieren müssen. Ich habe 2017 an gleicher Stelle bereits ausgeführt, dass wir in Deutschland zunächst die rechtlichen Voraussetzungen für die Ratifizierung schaffen mussten, wie etwa die gesetzliche „Nein heißt Nein“-Regelung, die vorschreibt, dass sich nun jeder strafbar macht, der sich über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt.

Dieser schon an sich wichtige und richtige Schritt war auch eine Voraussetzung für unseren Beitritt und die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Denn – und das ist das Entscheidende – es ist eine Tatsache, dass allein die Unterschrift unter ein Abkommen noch keine Frau aus häuslicher Gewalt befreit oder diese verhindert hat. Die Ratifizierung der Istanbul-Konvention war und ist richtig und wichtig, aber sie ersetzt nicht konkrete Maßnahmen vor Ort. In der Türkei ist das Konzept der sogenannten Familienehre nicht selten eine Rechtfertigung von Gewalttaten an Frauen.

Bei der Istanbul-Konvention verpflichten sich die Unterzeichner hingegen dazu, Verhaltensweisen zu ändern, die auf althergebrachten Geschlechterrollen beruhen. Artikel 42 hält gesondert fest, dass es mit Blick auf Kultur, Traditionen und Religion keine Rechtfertigung für Gewalt gegen Frauen gibt. Dies gelte insbesondere für Verbrechen, die im Namen der sogenannten Ehre begangen werden.

Doch die Fälle von Gewalt an Frauen in der Türkei sind in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. So wurden allein im Jahr 2019 offiziell 474 Frauen getötet. Die Dunkelziffer liegt dabei wahrscheinlich noch viel höher. Laut der türkischen Organisation „Wir werden Frauenmorde stoppen!“ gibt es pro Monat 20 bis 30 Morde an Frauen, und auch schon 50 Morde in einem Monat seien vorgekommen. Es reagieren Polizei und Behörden oftmals nicht auf Hilferufe von Frauen. So ging die 45 Jahre alte Ayşe Tuba Arslan 23-mal zur Polizei, um ihren gewalttätigen Mann anzuzeigen. Sie bekam keine Hilfe und wurde schließlich im Oktober 2019 von ihm erstochen. Nach einem öffentlichen Aufschrei wegen diesem und zwei weiteren brutalen Frauenmorden sah sich die türkische Regierung Anfang letzten Jahres dazu gezwungen, Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen anzukündigen. Doch durch die Coronapandemie und den Lockdown der türkischen Regierung trat das Thema schnell wieder in den Hintergrund und verschärfte sich sogar. Die Hilferufe von Frauen steigerten sich um über 50 Prozent, und alleine im Juni 2020 wurden nicht nur 27 Morde an Frauen gezählt, hinzu kamen weitere 23 Todesfälle von Frauen unter nicht ganz klaren Umständen. Erschwerend kommt hinzu, dass es in der Türkei nur knapp über 3 400 Plätze in Frauenhäusern gibt. In Deutschland dagegen sind es 34 000 Plätze, also zehnmal so viel. Wir wissen alle, dass es bei Weitem nicht ausreicht.

Die Ratifizierung eines Abkommens verhindert keine Gewalt an Frauen. Die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen steht ohne Maßnahmen nur auf dem Papier. Zur Durchsetzung gehört das gesellschaftliche Bewusstsein der gleichen Rechte aller Menschen. Gewalt gegen Frauen ist leider oftmals ein Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Diese haben sich offensichtlich in der Türkei verschlechtert.

Der gezielte Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zeigt, dass die derzeitige türkische Regierung nicht vorhat, Gewalt an Frauen zu bekämpfen. Gleichzeitig zeigen sich autoritäre Tendenzen, wie etwa die Einschränkung der Pressefreiheit, Verbotsverfahren gegen politische Parteien und eine vom Staat geförderte Islamisierung der säkularen Gesellschaft. Keine Religion oder Kultur auf der Welt rechtfertigt es, die Rechte von Frauen einzuschränken, sie zu missachten oder gar Gewalt gegen Frauen anzuwenden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zeigt die Missachtung von Frauen, die daraus folgende Gewalt gegen Frauen und den fehlenden Schutz von Frauen. Hier müssen der Europarat und Deutschland klare Ansagen an Erdogan machen und ein Umdenken einfordern. Wir wollen ein gutes Verhältnis zu den Türken haben, aber nicht mit einem Erdogan, der die Rechte der Frauen und die Menschenrechte mit Füßen tritt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])