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Dr. Gerd Müller: "Den Kampf gegen Hunger und Armut, für Frieden und Gerechtigkeit als moralische, politische und menschliche Verpflichtung zum Grundanliegen unserer Politik machen"

Rede zu 40 Jahre Nord-Süd-Bericht

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Nord-Süd-Bericht von Willy Brandt ist ein Schlüsseldokument globaler Entwicklung. Das Überleben sichern – eine Welt: Mit diesem Titel leitete Willy Brandt einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik ein. Es ging nicht mehr um Entwicklungshilfe der Industrieländer, sondern um eine Politik und Bedingungen des gemeinsamen Überlebens. Willy Brandt entwickelte eine Strategie zur Gestaltung der Globalisierung. Man bedenke: Das war 1980, vor 40 Jahren. Ich erinnere mich. Das war damals unser Einstieg in die Politik.

Ich zitiere aus der Einleitung Willy Brandts zum Nord-Süd-Bericht:

Ob es uns passt oder nicht: Wir sehen uns mehr und mehr Problemen gegenüber, welche die Menschheit insgesamt angehen, so dass folglich auch die Lösungen hierfür in steigendem Maße internationalisiert werden müssen. Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen – Krieg, Chaos, Selbstzerstörung – erfordert eine Art „Weltinnenpolitik“, die über den Horizont von Kirchtürmen, aber auch nationale Grenzen weit hinausreicht. Dies vollzieht sich bisher nur im Schneckentempo.

Zitat Ende. Willy Brandt: Einleitung des Nord-Süd-Berichtes.

Willy Brandt wollte den Nord-Süd-Ausgleich voranbringen. Die Einleitungsworte von Willy Brandt könnten und müssten heute zum Beispiel bei der Münchner Sicherheitskonferenz oder hier im Plenum Leitschnur sein.

(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Regierung müsste das Leitschnur sein!)

Meine Damen und Herren, deswegen freue ich mich, dass ich hier als Auftaktredner sprechen darf.

So beauftragte Willy Brandt Minister Erhard Eppler bereits 1971 mit der Vorlage einer ersten entwicklungspolitischen Konzeption der Bundesregierung. Erhard Eppler war ein Vordenker deutscher Entwicklungspolitik.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Seine Anstöße sind auch für mich bis heute grundlegend für die deutsche Entwicklungspolitik. Ich hatte vor seinem Tod Gott sei Dank Kontakt mit ihm. Es ist mir als derzeitigem deutschen Entwicklungsminister sehr wichtig, ihm als langjährigem Entwicklungsminister ein ehrendes Gedenken, Respekt und Anerkennung des Parlaments zu erweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Nord-Süd-Bericht machte klar: Um Überleben zu sichern, geht es um eine stärkere Integration der armen Länder in die Weltwirtschaft – das liegt alles 40 Jahre zurück! –, es geht gleichwertig um ein stärkeres finanzielles Engagement der reichen Nationen. Die Ausgaben für Entwicklung – so steht es im Nord-Süd-Bericht – sollten bis 1985 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens steigen – 0,7 Prozent bis 1985 – und bis 2000 auf 1 Prozent. Das war damals, vor 40 Jahren, die Vorgabe. Wenn die Unterstützung in diesen Feldern, auch die politische Unterstützung, auch noch heute genauso stark wäre wie diejenige in anderen Feldern – ich nenne die Verteidigungspolitik –, dann hätten wir das 1-Prozent-Ziel längst erreicht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])

Willy Brandt forderte – ich zitiere ihn –, weniger Geld für Rüstung und deutlich mehr für Entwicklung auszugeben.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Genau so ist es!)

Denn für ihn war Entwicklungspolitik Friedenspolitik. Ich zitiere: „Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer kein Friede.“ So Willy Brandt in seiner Rede 1973 vor den UN. Wissen Sie, ich komme gerade aus dem Sudan und war im Nordosten Nigerias. Dort herrscht Hunger, und das ist der Auslöser für Bürgerkrieg, für Terror, für Instabilität. Wie recht Willy Brandt doch hatte und hat!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Das war noch eine Führungsperson!)

Sein Nord-Süd-Engagement entfaltete nachhaltige Wirkung. Es folgte die von Olof Palme geleitete Unabhängige Kommission für Abrüstungs- und Sicherheitsfragen, und es folgte die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung mit dem sogenannten Brundtland-Bericht.

40 Jahre sind seitdem vergangen. Die weltweite Bilanz heute ist leider ernüchternd. Die Ausbeutung von Mensch und Natur in globalen Lieferketten geht weiter. Heute vor einer Woche, am Mittwoch, stand ich im Nigerdelta: Tausende von Hektar verseuchte Mangroven, verseuchte Böden. Dort beginnt die Lieferkette Öl. Wenn Sie in Deutschland, etwa in Berlin, an die Tankstelle fahren, wollen Sie solche Verhältnisse nicht am Anfang, an der Quelle der Ölausbeutung.

75 Millionen Kinder arbeiten heute für uns in Minen, auf Plantagen, in der Textilwirtschaft. Die Rüstungsausgaben steigen weltweit – entgegen dem, was Willy Brandt damals als Ziel hatte –, zwischenzeitlich auf 1 700 Milliarden. Die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit stagnieren bei weltweit 170 Milliarden. 1 : 10 beträgt dieses Missverhältnis, das es zu ändern gilt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ja, 40 Jahre später steigt die Zahl der Hungernden wieder an.

All dies muss uns motivieren. Wir alle, meine Damen und Herren, sind gefordert, den Kampf gegen Hunger und Armut, für Frieden und Gerechtigkeit im Sinne von Willy Brandt, Erhard Eppler, Gro Harlem Brundtland, Olof Palme als moralische, politische und menschliche Verpflichtung ein Leben lang zum Grundanliegen unserer Politik zu machen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])