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(Quelle: Steffen Böttcher)

Eine nukleare Kapazität ist Deutschlands Lebensversicherung

Der Ukraine-Krieg hat die Weltordnung ins Wanken gebracht. Von Deutschland wird jetzt Führung erwartet: Was das für Deutschlands nukleare Teilhabe, unser Verhältnis zu China und ein Comeback der transatlantischen Freihandelsabkommen bedeutet.

Europa erlebt mit dem brutalen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur die Integrität des nach Russland größten europäischen Landes steht auf dem Spiel. Russland versucht, die gesamte politische Architektur Europas zu zerstören, wie sie auf der Grundlage der nach den zwei Weltkriegen entwickelten völkerrechtlichen Vereinbarungen und ihren Institutionen entstand und nach 1990 noch einmal neu formuliert wurde.

Allein die transatlantische Partnerschaft bewährt sich in diesen Wochen und Monaten aufs Neue. Amerikaner und Europäer teilen die gleichen Werte, stehen einander bei. Für beide Seiten ist klar: Kein Land auf der Welt hat das Recht, einseitig Grenzen zu verschieben oder auf Eroberungsfeldzüge zu gehen – ganz gleich, wie militärisch stark es ist.
 
Und trotzdem passiert gerade genau dies. Der russische Angriffskrieg ist ein Angriff auf alle Grundsätze der internationalen, regelbasierten Ordnung und auf das friedliche Zusammenleben der Menschen in ganz Europa.

Der Krieg deckt noch einmal schonungslos auf, welch fundamentale Bedeutung das transatlantische Verhältnis für die strategische Ausrichtung der europäischen Sicherheit immer noch hat. Wir fragen uns: In was für einem Europa würden wir eigentlich seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 leben, wenn die USA den Europäern und vor allem der Ukraine nicht helfen würde? Für ganz Europa und auch für Deutschland könnte das – gepaart mit der Schwäche der eigenen Verteidigungsfähigkeit – existenzielle Folgen haben.

Der Krieg ist aber zugleich auch ein Rückfall in alte Muster: Die USA führen, Europa folgt und Deutschland zögert. Im direkten Vergleich zu den USA ist die deutsche Unterstützung für die Ukraine sehr gering. Auch deshalb steht die Bundesregierung im Kreis der europäischen und transatlantischen Partner immer wieder in der Kritik.

Zumindest innenpolitisch aber hat der russische Angriff einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung der Bundeswehr ausgelöst. Plötzlich gibt es einen breiten politischen Konsens: Wir brauchen die Bundeswehr als eine moderne und einsatzfähige Streitkraft, auf die wir uns selbst und auf die sich unsere Partner verlassen können. Beides liegt in unserem ureigenen Interesse.

Das sogenannte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ist ein guter erster Schritt. Er wird in der längeren Perspektive nicht ausreichen. Auch nach der – relativ schnell zu erwartenden – Ausschöpfung der Mittel werden wir mindestens zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes bereithalten müssen, tendenziell eher mehr.

Von Deutschland wird aber nicht nur mehr Geld für die Verteidigung erwartet. Von Deutschland wird in dieser neuen Zeitrechnung erwartet, mit neuen Ideen für die europäische und transatlantische Zusammenarbeit voranzugehen, von Deutschland wird konzeptionelle Führung erwartet.
 
Zusammen mit Frankreich und anderen, die in Europa vorangehen wollen, muss Deutschland an der Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato arbeiten und Schritt für Schritt auf eine europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinarbeiten.

Vor allem Deutschland und Frankreich müssen die Souveränität Europas stärken. Wir leisten damit zugleich den besten Beitrag für das transatlantische Bündnis. Das Leitmotiv für Deutschland muss deshalb lauten: europäischer werden und transatlantisch bleiben.

Die Einstimmigkeit lähmt

Ganz konkret heißt das: Wir sollten im Europäischen Rat zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen kommen, die dann für alle im Kreis der EU-27 verbindlich sind. Die Einstimmigkeit lähmt. Auch werbe ich dafür, dass wir unseren nationalen Parlamentsvorbehalt bei multinationalen Einsätzen reformieren. Wer integrierte europäische Einsatzkräfte möchte, die nicht nur eine politische Geste, sondern eine echte militärische Ressource sind, der muss dafür auch national die notwendigen Voraussetzungen schaffen.

Es gibt jetzt keine Ausreden mehr, wie die Außenministerin richtig sagt. Das gilt auch für den nuklearen Schutzschirm. Niemand von uns weiß, wie die US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 ausgehen und ob die Schutzversprechen dann noch gelten. Eine nukleare Kapazität aber ist unsere Lebensversicherung, auf die wir nicht verzichten können.

Präsident Macron hatte Deutschland schon in seiner ersten Amtszeit angeboten, hierüber eine konkrete Debatte zu führen. Deutschland hat dieses Angebot ignoriert. Im Lichte des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist es nun an der Zeit, diesen Gedanken ernsthaft aufzunehmen und zu einem Ergebnis zu führen.

Russland wird auf absehbare Zeit die größte Herausforderung für die Sicherheit Europas bleiben. Wo früher galt, es könne nur Sicherheit mit Russland geben, gilt nunmehr, es muss europäische Sicherheit vor Russland geben. Der russische Angriffskrieg muss aber auch zu einer grundlegenden Neubewertung unserer Beziehungen zu China führen.
 
Der außenpolitische Glaubenssatz „Wandel durch Handel“ ist gescheitert. Die Annahme, wirtschaftliche Kooperation würde zwangsläufig eine gesellschaftliche Öffnung herbeiführen, ist widerlegt. Wir sollten davor nicht länger die Augen verschließen. Unsere Abhängigkeit von China ist nicht so einseitig, aber sie ist für Teile der deutschen Wirtschaft nicht minder risikobehaftet als die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen für das ganze Land.

Die chinesische Staatsführung hat ebenfalls eine völlig andere Vorstellung von der Zukunft der internationalen Ordnung als der politische Westen. Das existierende Völkerrecht geht aus von der rechtlichen Gleichheit aller Staaten, unabhängig von ihrer Größe und ihrer Stärke. Die chinesische – wie die russische – Vorstellung von internationaler Ordnung orientiert sich ausschließlich an politischer, wirtschaftlicher und vor allem an militärischer Stärke.

Damit befinden wir uns in der „westlichen“ Welt in einem unmittelbaren Systemkonflikt vor allem mit China, ja, die freiheitlichen Demokratien geraten zunehmend in die Defensive gegenüber den hochgerüsteten autoritären Staaten dieser Welt. Die Stärke des Rechts der alten Ordnung konkurriert immer mehr mit dem selbst angeeigneten Recht des Stärkeren.
Daraus erwächst eine unmittelbare Bedrohung unserer äußeren Integrität und unserer inneren Souveränität, der wir einen energischen Selbstbehauptungswillen entgegensetzen müssen.

Einseitige Abhängigkeiten zu Staaten, die in diesem direkten systemischen Konflikt zu unseren freiheitlichen Wertvorstellungen stehen, schwächen diesen Willen zur Selbstbehauptung. Wir brauchen daher eine ehrliche Analyse unserer strategischen Ausgangslage, und wir müssen im Zweifel auch bereit sein, wirtschaftliche Einbußen zum Schutz unserer strategischen Unabhängigkeit hinzunehmen.

Diese Zeitenwende muss auch unsere Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten und Kanada umfassen, insbesondere wenn es um Technologie- und Energiepolitik geht. Wir müssen die Partnerschaften mit denen verstärken, die so denken und so leben wollen wie wir.
 
Schnell und unkompliziert könnte man CETA umsetzen: Das fertig verhandelte Freihandelsabkommen mit Kanada muss endlich vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden. Wie kann es sein, dass wir an der Vertiefung unserer Energiepartnerschaft mit Katar arbeiten und es zugleich nicht schaffen, ein Freihandelsabkommen mit einem transatlantischen Partner wie Kanada abzuschließen? Welche Werte vertritt eine solche deutsche Außen(handels)politik?

Neue Wirtschaftsprojekte

Und auch über ein Freihandelsabkommen mit den USA muss wieder gesprochen werden. Die Einberufung eines EU-US-Handels- und Technologierats (TTC) kann der Beginn eines neuen transatlantischen Wirtschaftsprojekts sein. Dabei sollten die Europäer und Amerikaner pragmatisch vorgehen: Wo gibt es Bereiche, in denen eine engere Zusammenarbeit vorteilhaft ist und schnell konkrete Verhandlungsergebnisse erzielt werden können?

TTC kann der Anfang sein, um wieder über ein umfassendes transatlantisches Handels-, Wirtschafts- und Investitionsabkommen zu verhandeln. Worauf warten wir also noch? Und es gibt weitere Länder und Wirtschaftsregionen auf der Welt, die unsere Vorstellungen teilen, ihnen zumindest nahestehen. Mit denen gilt es jetzt, ein enges Netz von Partnerschaften und Kooperationen zu errichten. Nur dann haben wir die Folgen des russischen Krieges in der Ukraine richtig verstanden.
 

Dieser Artikel erschien zuerst als Gastbeitrag auf welt.de am 13. Juni 2022.