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Ralph Brinkhaus: "Wir brauchen in diesem Land eine kleine Revolution"

Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 25. und 26. März 2021

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon seltsam, dass Herr Gauland gerade beklagt, dass nicht genügend geimpft wird im Kampf gegen eine Pandemie, die seine Fraktion seit einem Jahr bestreitet.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt! – Enrico Komning [AfD]: Das ist doch falsch!)

Es ist eine Seltsamkeit, wie hier argumentiert wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist, glaube ich, nicht die einzige Seltsamkeit, die wir momentan haben.

Es ist richtig: Wir sind jetzt im 13. Monat einer Epidemie nationalen Ausmaßes, wir sind im zweiten Lockdown, wir haben – die Bundeskanzlerin hat es gesagt – mittlerweile den zweiten Virus, und wir sind alle müde, wir sind mürbe. Das ist überhaupt keine Frage.

(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Viele Menschen sind wütend, viele Menschen sind zornig.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Gerade in diesem Augenblick halte ich es für wichtig, auch mal den Blick über Deutschland hinaus nach Europa zu wenden. Das ist ja auch der Sinn dieser Debatte. Nur um das mal klarzumachen – weil es ja Leute gibt, die sagen, wir sind eine Insel, wir sollen national zuerst an uns denken, und dann reicht das –: Wir haben neun Landaußengrenzen mit Ländern wie Dänemark, von dem wir zugegebenermaßen in der Pandemie einiges lernen können, und Ländern wie Tschechien, wo überhaupt nichts klappt. Alle Personen, die von Ost nach West, von Nord nach Süd über den Landweg durch Europa reisen, reisen durch Deutschland. Kein Land ist in den Wertschöpfungsketten so europäisch vernetzt, wie Deutschland es ist. Und was wäre unser Arbeitsmarkt ohne die 24-Stunden-Pflegerinnen aus Polen, ohne die Bauarbeiter, ohne die Logistiker und ohne die Erntehelferinnen und Erntehelfer aus Rumänien, Bulgarien und vom Balkan? Europa, meine Damen und Herren, ist für uns keine Frage, Europa ist keine Option; Europa ist unsere Wirklichkeit, und deswegen können wir die Probleme dieser Pandemie auch nur europäisch lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und weil das so ist, ist es auch wichtig, dass wir in dieser Zeit europäische Solidarität üben. Darüber werden wir in einer späteren Debatte abstimmen. Ja, es ist richtig, dass wir in der Krise helfen. Ja, es ist richtig, dass wir in der Krise mit dem Eigenmittelbeschluss, mit dem Neustartpaket etwas Außergewöhnliches auf den Weg bringen. Aber, meine Damen und Herren, das ist die Ausnahme in der Krise, das ist die Solidarität in der Krise. Deswegen lehne ich es total ab, was Olaf Scholz und die AfD – aus unterschiedlichen Gründen – behaupten, dass das nämlich der Einstieg in eine dauerhafte Fiskal- und Schuldenunion ist. Das ist es für uns definitiv nicht, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der AfD: Doch!)

Es ist auch richtig, dass wir diesen Impfstoff europäisch gemeinsam beschaffen, aus den Gründen, die ich gerade genannt habe.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das funktioniert aber nicht!)

Und natürlich ist es so, dass es vielleicht für uns national besser gewesen wäre – aber nicht langfristig –, wenn wir diesen Impfstoff allein beschafft hätten. Aber trotzdem ist es richtig, dass wir das gemeinsam als Europäerinnen und Europäer gemacht haben. Ja, wir müssen uns anrechnen lassen, dass es schlechter geklappt hat als im Vereinigten Königreich, in Israel oder in den Vereinigten Staaten.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Eben!)

Ja, es wichtig, dass dieser Gipfel sich damit beschäftigt, warum das so war, und dass die Impfstoffversorgung verbessert wird. Das ist überhaupt keine Frage. Aber wir müssen uns auch fragen: Sind die europäischen Institutionen denn überhaupt bereit dafür gewesen, so eine Impfstoffbeschaffung zu organisieren? Haben wir nicht Dysfunktionalitäten in den europäischen Institutionen? Deswegen muss bei aller Kritik an den handelnden Personen in Brüssel auch das berücksichtigt werden: Wir müssen in Europa bei der Bewältigung dieser Krise auch funktional besser werden. Das muss eine Lehre aus dieser Pandemie sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn ich jetzt bei Kritik an handelnden Personen bin, dann möchte ich mal nach Deutschland zurückkehren. Ich möchte einfach mal vor Augen führen, mit welcher Schärfe und mit welcher Häme handelnde Personen in der letzten Zeit hier kritisiert worden sind. Ich schließe mich dieser Häme und Schärfe ausdrücklich nicht an, weil nämlich Entscheidungen getroffen worden sind und die meisten Entscheidungen im Übrigen auch richtig waren. Ich schließe mich dieser Häme und Schärfe nicht an, weil diese Entscheidungen unter Unsicherheit und im Risiko getroffen worden sind.

(Zurufe von der AfD)

Ich schließe mich dieser Häme nicht an, weil wir mittlerweile eine Unkultur in diesem Land haben, dass jegliche Fehler als Skandal, als Versagen oder als Versagen mit Vorsatz bezeichnet werden. Wo sind wir denn, meine Damen und Herren?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])

Wenn wir diese Fehlerkultur fortführen, dann wird niemand mehr Fehler zugeben, dann werden Fehler vertuscht,

(Tino Chrupalla [AfD]: Wie bei der CDU!)

und dann können wir auch nicht lernen. Deswegen sollten wir uns überlegen, wie wir mit Fehlern in diesem Land umgehen, sollten nach vorne schauen und sollten daraus lernen.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Aber eins ist auch richtig, und das ist überhaupt keine Frage: Europa – ich habe es gerade gesagt – ist in Teilen dysfunktional für diese Krise aufgestellt gewesen; das Gleiche gilt auch für unser Land. Und nein, ich möchte nicht den Föderalismus infrage stellen. Aber die Aufgaben- und Verantwortungszuordnung im Föderalismus war für diese Krise schlecht. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die inneren Verwaltungsabläufe, die wir haben, sind nicht schnell und nicht flexibel und nicht agil genug, übrigens nicht nur für die Krise, sondern für viele andere Herausforderungen auch.

(Beifall der Abg. Ingrid Pahlmann [CDU/CSU])

Um das klarzustellen: Das liegt nicht an den Menschen, die in der Verwaltung arbeiten, sondern das liegt am politischen Rahmen, den wir auch hier im Deutschen Bundestag setzen. Und wenn wir, Herr Lindner, über Parlamentsbeteiligung reden, dann müssen wir darüber reden, wie wir hier einen neuen Rahmen schaffen, dass dieses Land besser und flexibler auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft reagieren kann, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Christian Dürr [FDP])

Wir müssen – die Bundeskanzlerin hat es gesagt; übrigens haben wir da mehr auf den Weg gebracht, als es öffentlich scheint – die Digitalisierung vorantreiben. Der Bundesinnenminister hat es auch gesagt und arbeitet daran. Wir brauchen eine neue Philosophie für den nationalen Katastrophenschutz. So, wie das jetzt funktioniert, kann es nicht weitergehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich habe auch gesagt: Wir brauchen in diesem Land nicht nur eine Reform, sondern wahrscheinlich sogar eine kleine Revolution. Auf diesem Land, auf diesem Staatswesen liegt der Staub von 200 Jahren, und diesen Staub müssen wir spätestens jetzt in der Krise beseitigen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Revolution ist nicht Ihr Ding!)

Aber – das ist auch eine Wahrheit – in der aktuellen Pandemie können wir nicht auf eine Revolution warten, da müssen wir schnell handeln.

Gestatten Sie mir diesbezüglich einen Gedanken: Ich bin wie viele Kolleginnen und Kollegen auch in die Politik gegangen, um Leben zu schützen, um Leben zu ermöglichen. Das ist unsere Motivation: Leben vom Anfang bis zum Ende zu schützen und Leben zu ermöglichen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Leben die Voraussetzung für Freiheit ist, dass Leben und Gesundheit die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Grundrechten sind und dass Leben und Gesundheit die Voraussetzung dafür sind, dass ich mein Leben eigenverantwortlich gestalten kann. Das kann ich natürlich nicht absolut setzen – klar, ich muss den Wert des Lebens immer wieder gegen andere Werte ausbalancieren; das ist überhaupt keine Frage –, man kann von mir als Politiker erwarten, dass ich priorisiere.

Ich stelle fest, dass sich heute über 20 000 Menschen neu infiziert haben, dass heute weit über 200 Todesfälle gemeldet worden sind; das sind im Übrigen ungefähr so viele Leute, wie jetzt hier im Saal sitzen. 200 Gesichter, 200 Schicksale, 200 Hoffnungen, 200 Enttäuschungen, 200-mal Leid, und das jeden Tag und nicht nur heute, nicht nur gestern, nicht nur vorgestern. Es muss das Primat unseres Handelns sein, dass wir dieses Leben schützen. Ja, und es ist auch unsere Aufgabe, neben denjenigen, die wir immer wieder zu Recht im Blick haben – die Gastwirte, die Einzelhändler, die Menschen, die sich nach sozialen Kontakten sehnen –, auch diejenigen im Blick zu haben, die nicht laut sind. Das sind die Schwachen, die zu Hause bleiben müssen, das sind die überlasteten Intensivpfleger, das sind die Menschen, die mit Langzeitfolgen erkrankt sind, das sind die Menschen, die einen elenden Tod gestorben sind. Im Übrigen: Wenn jetzt jüngere Menschen erkranken, dann werden sie einen noch elenderen Tod sterben. Deswegen ist es unsere Verantwortung, etwas für diese Menschen zu tun. Natürlich hilft Testen, natürlich hilft Impfen, aber seien wir doch mal ehrlich: Das wird in den nächsten Wochen nicht reichen. Deswegen ist eine große Währung, die wir in den nächsten Wochen haben, immer noch die Kontaktbeschränkung. Diese Entscheidung müssen wir treffen.

Wir werden – die Bundeskanzlerin hat es gesagt – nicht nur das Licht sehen, sondern wir werden wahrscheinlich im Sommer rauskommen. Aber es ist unsere Entscheidung, wie viele Menschen auf dem Weg dorthin noch erkranken und sterben werden. Vor dem Hintergrund haben wir die Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz zu messen. Und bei allem Respekt: Ich glaube, wir haben an der Stelle noch nicht genug getan, um diese Schwachen, um diese potenziell Kranken zu schützen. Wir sollten uns überlegen, was wir noch tun können.

Schlussbemerkung. Ich habe am Anfang meiner Rede gesagt: Das Land ist unruhig. Viele Menschen, Bürgerinnen und Bürger, Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker, sind zornig und wütend. Es ist ein schleichendes Gift, das in unser Land einsickert, das Gift der Wut. Natürlich: Kritik ist notwendig, das Ringen um die besten Konzepte ist unverzichtbar. Fehler müssen benannt werden. Und im Übrigen: Ja, auch persönliches Fehlverhalten muss konsequent bestraft werden. Jeder, der handelt, muss sich auch verantworten. Aber bitte: Lasst uns auf diesem Weg zusammenbleiben; denn wenn wir nicht zusammenbleiben, wenn wir es gestatten, dass die Wut in diesem Land gewinnt, dann wird dieses Gift viel, viel schlimmer sein als das Virus, das uns momentan beschäftigt.

In dem Sinne wünsche ich uns, dass wir in den nächsten Wochen den Weg zusammen gehen, bis wir durchgeimpft sind und unser altes Leben wieder zurückhaben.

(Beifall bei der CDU/CSU)