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Thorsten Frei: "Wir brauchen mehr europäische Zusammenarbeit"

Rede zur Aufnahme unbegleiteter Flüchtlingskinder

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Monaten war ein erheblicher Migrationsdruck aus der Türkei zu verzeichnen. Im vergangenen Jahr sind etwa 60 000 Migranten aus der Türkei auf die griechischen Inseln gekommen. Die Zahl hat sich gegenüber dem Vorjahr nahezu verdoppelt. Das ist ein Faktum, das wir zunächst zur Kenntnis nehmen müssen. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass sich etwa 42 000 Migranten auf den griechischen Inseln befinden. Und ja, es ist richtig: Die Zustände dort sind prekär, und sie drohen unhaltbar zu werden.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind unhaltbar!)

Insofern gibt es einen Handlungsdruck; das möchte ich ganz ausdrücklich zugestehen.

Was überhaupt nicht geht – lassen Sie mich das als Vorbemerkung sagen –, ist, so zu tun – und das tun die Antragsteller –, als würde Deutschland seiner humanitären Verantwortung nicht gerecht werden. Das ist falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Linda Teuteberg [FDP])

Schauen Sie sich die Zahlen an: Seit 2015 haben wir 1,8 Millionen Asylantragsteller in Deutschland aufgenommen. Das sind mehr als 41 Prozent in diesem Zeitraum, bezogen auf die ganze Europäische Union. Allein im Jahr 2016 hat Deutschland mehr Asylbewerber aufgenommen als alle anderen 27 EU-Länder zusammen. Seit 2015 hat unser BAMF etwa 1 Million Schutztitel ausgereicht. Insofern ist eines vollkommen klar: Deutschland lässt weder Griechenland noch Italien allein, und wir lassen auch keine Kinder auf den griechischen Inseln im Stich; das möchte ich als Vorrede einfach mal sagen. Ich glaube nicht, dass wir uns nachsagen lassen müssen, unserer humanitären Verantwortung nicht gerecht zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Linda Teuteberg [FDP])

Lassen Sie mich an dieser Stelle zu dem konkreten Vorschlag in diesen Anträgen Folgendes sagen

(Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– ich würde zunächst einmal versuchen, den gedanklichen Schluss zu ziehen; vielleicht erübrigt sich dann ja die Frage –:

Zunächst einmal ist klar – das hat Max Weber in seinem großen Essay „Politik als Beruf“ so beschrieben –, dass es beim politischen Tun nicht nur auf die Gesinnung ankommt, sondern letztlich auch darauf, die Folgen des eigenen Handelns in die moralische Gesamtbewertung einzubeziehen. Wenn ich mir die Folgen anschaue, die eine solche Ad-hoc-Aufnahme von Flüchtlingskindern von den griechischen Inseln hätte, dann muss ich sagen, dass die Folgen nicht verantwortbar sind.

(Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Insbesondere ist dieser Weg nicht verantwortbar, wenn man ihn als nationalen Alleingang ausgestaltet, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.

Was wäre nämlich das Signal? Das Signal wäre, dass man nur irgendwie die griechischen Inseln erreichen muss, dann wird man nach einiger Zeit auch das europäische Festland erreichen. Das würde neue Pull-Faktoren auslösen. Vor allen Dingen würde das das Türkei-EU-Abkommen ad absurdum führen, doch das ist ein ganz wesentlicher Pfeiler unseres Konzepts „Ordnen, Steuern und Begrenzen“. Deshalb geht das nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit würde man im Ergebnis die Situation auf den griechischen Inseln nicht verbessern, sondern nur noch viel unmöglicher machen.

Deswegen kommt es auf Folgendes an: Wir müssen mithelfen, damit sowohl die Türkei als auch Griechenland angemessen unterstützt werden können.

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wann fangen Sie damit an? – Gegenruf der Abg. Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Wir sind dabei!)

Bei der Türkei kommt es darauf an, dass genügend Mittel für eine menschenwürdige Unterbringung vorhanden sind, darüber hinaus aber auch irreguläre Ablandungen verhindert werden. Und bei Griechenland kommt es darauf an, dass neben der humanitären Unterstützung die Asylverfahren dort beschleunigt werden. Und wenn am Ende eine Ablehnung steht, muss auch eine Rückführung in die Türkei erfolgen. Sonst kann das EU-Türkei-Abkommen nicht funktionieren. Genau darum geht es. Dafür setzt sich die Bundeskanzlerin ein. Dafür setzt sich der Bundesinnenminister ein: in Griechenland und in der Türkei. Wir lassen dem auch ganz konkretes Handeln folgen.

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Herr Frei, darf ich Sie fragen, ob Frau Hänsel nun eine Zwischenfrage stellen darf?

Thorsten Frei (CDU/CSU):

Ja. Ich bin schon ein bisschen weitergekommen. – Bitte schön, Frau Hänsel.

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Danke schön, dass Sie die Frage zulassen, Herr Frei. Entgegen Ihrer Ankündigung haben sich meine Fragen nicht von selbst beantwortet.

Thorsten Frei (CDU/CSU):

Ach so, Sie haben sie ja noch gar nicht gestellt.

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Aber Sie haben ja auf mich gedeutet und gesagt, dass sich meine Frage vielleicht erübrigt.

Thorsten Frei (CDU/CSU):

Entschuldigung.

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Sie hat sich aber nicht erübrigt. – Sie haben wieder dargelegt – das geschieht ja gebetsmühlenartig –, dass es Pull-Faktoren gibt, die dazu führen, dass mehr Flüchtlinge kommen. Aber das Problem ist grundsätzlicher Natur: Flüchtlinge sind nicht wegen der Pull-Faktoren da, sondern weil es Fluchtursachen gibt. Das ist der erste Punkt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Seit Jahren sagen wir gebetsmühlenartig: Schauen Sie stärker auf die Fluchtursachen – es gibt viele Gründe; ich kann sie nicht alle aufführen –: Handelspolitik, Waffenlieferungen usw. Auch da machen Sie Ihre Hausaufgaben nicht. Das ist ein ganz großes Problem.

Jetzt haben wir ungefähr 40 000 Menschen auf den griechischen Inseln. Es gab mittlerweile einen Generalstreik der griechischen Bevölkerung auf den Inseln. Die Situation ist untragbar. Es geht um mehrere Tausend unbegleitete Minderjährige. Ich verstehe nicht, weshalb Sie jetzt nicht einfach handeln und sagen: Wir holen diese Jugendlichen hierher, aufs europäische Festland – man kann das mit anderen Staaten zusammen organisieren –, damit sie die Möglichkeit haben, rauszukommen. – Wenn Sie das nicht machen, Herr Frei, dann sind Sie wirklich politikunfähig. Sie verweisen auf die Jahre zuvor, auf das, was Sie alles gemacht haben; aber es gilt, jetzt zu handeln. Die Situation ist untragbar. Dafür brauchen wir eine Lösung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Frage! – Gegenruf der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geschäftsordnung lesen!)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Herr Frei.

Thorsten Frei (CDU/CSU):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Hänsel, zunächst einmal: Mit einem Punkt haben Sie recht. Natürlich muss man Fluchtursachen bekämpfen, und das machen wir auf vielfältige Weise. In der Politik gilt aber eben nicht: Du machst das eine und dann das andere nicht. In diesem Fall gilt: Das eine tun und das andere nicht lassen.

Jetzt zu Ihrer zweiten Frage: Worum geht es? Sie unterstellen, dass das Problem dadurch gelöst würde, dass man Ad-hoc-Aufnahmen von Jugendlichen und Kindern von den griechischen Inseln vornimmt. Meine These ist eine gegenteilige. Wenn Sie das Grundproblem dort nicht lösen, dann verbessern Sie die Situation auch durch solche Ad-hoc-Aufnahmen nicht, sondern ganz im Gegenteil: Sie machen die Zustände für die Menschen auf den griechischen Inseln dadurch noch unerträglicher.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das geht gar nicht!)

Liebe Frau Hänsel, ich will Ihnen deshalb auch sagen, was wir tun. Beispielsweise haben wir aus den Beständen des BAMF für etwa 10 000 Personen entsprechende Unterbringungskapazitäten zur Verfügung gestellt. Am 10. Dezember sind 55 Lkws mit Hilfslieferungen im Volumen von 1,56 Millionen Euro nach Griechenland gefahren. Wir helfen auch bei den Verfahren.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das dauert zwei Jahre!)

Wir haben den griechischen Behörden beispielsweise 1 000 DNA-Tests zur Verfügung gestellt, damit man für eine Familienzusammenführung sorgen kann.

(Michel Brandt [DIE LINKE]: Weihnachtsgeschenk!)

Wir helfen an ganz vielen Stellen, um die Griechen zu ertüchtigen, die Aufgaben schneller zu lösen und damit auch die Situation auf den griechischen Inseln zu verbessern. Das ist der entscheidende Punkt.

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Vielen Dank. – Erlauben Sie eine Rückfrage oder Bemerkung vom Kollegen Kurth?

Thorsten Frei (CDU/CSU):

Ja, bitte schön.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Frei. – Sie haben gerade davon gesprochen, dass es eine Frage der Verantwortungsethik im Gegensatz zur Gesinnungsethik ist, die Personen, die auf den griechischen Inseln unter fraglos menschenunwürdigen Umständen leben – insbesondere die Minderjährigen –, nicht aus diesen menschenunwürdigen Umständen zu befreien.

Ich muss schon sagen: Ich finde es interessant, dass die Einhaltung von Menschenrechten jetzt plötzlich eine Frage der Gesinnungsethik sein soll. Ich sehe das genau andersrum, dass nämlich die Einhaltung der Menschenrechte von Menschen, die sich auf europäischem Territorium befinden, eine Frage der Verantwortungsethik ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Und des Verfassungsrechts!)

Ich meine, das ist zumindest zum Teil auch bei Ihnen schon angekommen.

Ich möchte jetzt noch einmal konkret fragen. Am 13. Januar hat meine Fraktion unter Leitung von Luise Amtsberg ein Fachgespräch durchgeführt, bei dem es um das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ und die Seebrücke ging. Der Staatssekretär Mayer hat dort angekündigt, am 28. Januar, also gestern, solle ein Gespräch zwischen den Vertretern aufnahmebereiter Kommunen und dem Innenministerium stattfinden. Dieses Gespräch ist grundlos abgesagt worden.

Wissen Sie von diesen Gesprächsinitiativen, und meinen Sie nicht, dass angesichts der jetzigen Situation nichts mehr nottut, als wenigstens mit den Kommunen zu sprechen – die mehr als 130; dazu gehört auch meine Stadt Dortmund –, die sich bereit erklärt haben, diese Minderjährigen aus diesen unerträglichen Situationen zu befreien?

(Beifall der Abg. Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Herr Frei, jetzt haben Sie das Wort.

Thorsten Frei (CDU/CSU):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kurth, ich kann Ihnen diese Frage nur insoweit beantworten: Ich bin kein Vertreter des Innenministeriums und auch kein Vertreter der Regierung. Ich kann Ihnen aber meine Meinung sagen: Ich würde als Bundesinnenministerium ein solches Gespräch nicht führen, weil die Kommunen aus meiner Sicht für vieles Verantwortung tragen sollten, aber mit Sicherheit nicht für die Asyl- und Flüchtlingspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der FDP – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Frei, das tun sie jeden Tag!)

Das kann nur eine nationale Aufgabe sein. Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass man das Problem nicht nur im nationalen, sondern sogar im europäischen Maßstab lösen muss.

Die Kommunen, die Sie ansprechen, sind nicht bereit, die Konsequenzen zu tragen. Sie wollen nur eine bestimmte Art von Flüchtlingen aufnehmen, am liebsten Familien mit Kindern.

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben unseren Antrag nicht gelesen!].

Sie sind nicht bereit, die Kosten dafür zu übernehmen. Das tut die Allgemeinheit, und deshalb ist das auch eine nationale Aufgabe, die national entschieden werden muss.

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist anscheinend nicht die Meinung des BMI! Das ist ja offensichtlich!)

Ich kann Ihnen nur meine Meinung sagen: Ich würde als Bundesinnenministerium ein solches Gespräch nicht führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Echt schwach, Herr Frei!)

Jetzt komme ich zum letzten Punkt. Ich möchte noch auf Folgendes hinweisen: Wir haben beispielsweise unsere Rechte aus dem Dublin-Vertrag in der Vergangenheit – insbesondere im vergangenen Jahr – nicht so wahrgenommen, wie wir es hätten tun können. Wir haben im ganzen Jahr 2018 sechs Dublin-Rücküberstellungen nach Griechenland vorgenommen. Die Griechen haben umgekehrt 3 995 Dublin-Überstellungen vorgenommen.

Ich will an der Stelle nur eines sagen: Es gibt sehr viele Beispiele dafür, wo wir Verantwortung übernehmen. Das tun wir auch weiterhin. Aber wir tun es so, dass wir die Folgen im Blick haben. Wir unterstützen die griechischen Behörden, die Aufgaben richtig zu erledigen. Damit tragen wir auch effektiv zum Schutz der Menschen auf den griechischen Inseln bei.

Jetzt will ich Ihnen von den Grünen noch ein Letztes sagen.

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann mal los!)

Wenn ich Ihren Antrag anschaue: Sie wollen einen nationalen Alleingang bei den Ad-hoc-Aufnahmen. Sie wollen, dass wir die Rechtsberatung auf den griechischen Inseln finanzieren.

(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Glauben Sie eigentlich, dass es den europäischen Zusammenhalt stärkt, wenn wir hingehen und den anderen Ländern erklären, wie Rechtsstaatlichkeit funktioniert? Wir brauchen mehr europäische Zusammenarbeit in diesem Bereich und nicht weniger. Dafür schaffen wir die Voraussetzungen, nicht Sie mit Ihrem Antrag.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])