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Christoph de Vries: Eine Entscheidung ohne Kompetenz und Verantwortung kann zur Gefahr für die Demokratie werden

Rede zum Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Direkte Demokratie auf Bundesebene“

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die Nerven bei der AfD schon wieder blank liegen,

(Heiterkeit bei der FDP)

will ich gerne zur Sachlichkeit zurückfinden, auch wenn es etwas schwerfällt. Sie fordern immer Ernsthaftigkeit ein. Dieses wichtige Thema haben Sie vor drei Wochen angemeldet. Und was machten Sie dann? Sie legten den Antrag erst gestern vor. Das zum Thema Ernsthaftigkeit auf Ihrer Seite!

(Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das hat schon Methode! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das war noch nie anders! – Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Aber selber heulen sie rum! – Manuel Höferlin [FDP]: Weil sie planlos sind von der AfD!)

Ich will zum Wesen der repräsentativen Demokratie kommen; das ist bisher etwas zu kurz gekommen. Verantwortungsvolle Politik in der Demokratie lebt vor allem davon, dass sie mehr von Sachverstand und Vernunft und weniger von Stimmungen und Emotionen geleitet wird. Das sollten wir uns immer vor Augen führen, wenn wir über die Stärkung plebiszitärer Elemente reden.

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat zu Recht einmal gesagt:

Unsere freiheitliche Demokratie lebt nicht von Umfragen, sie lebt von Engagement und Courage!

Ich will das gerne ergänzen: Unsere Demokratie lebt von der Bereitschaft aller Beteiligten, aufeinander zuzugehen.

(Zurufe von der AfD: Aha!)

Sie lebt davon, dass die Vertreter unterschiedlicher Positionen aufeinander zugehen, dass Einzelinteressen nicht über dem Gemeinwohl stehen, dass gute Argumente zählen und dass es nicht nur um Gewinner und Verlierer geht.

(Beifall des Abg. Jürgen Braun [AfD])

Das sind all die Vorzüge der repräsentativen Demokratie in Deutschland, und wir sind gut beraten, diese Vorzüge nicht kleinzureden und leichtfertig aufs Spiel zu setzen;

(Beifall bei der CDU/CSU)

denn die Väter unseres Grundgesetzes haben aus guten Gründen ein starkes Parlament eingeführt und die Elemente direkter Demokratie stark beschränkt.

Ich will mal auf ein Wesensmerkmal der repräsentativen Demokratie zu sprechen kommen, nämlich das AKV-Prinzip. Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung liegen danach in einer Hand. Komplexe politische Fragen – das ist gesagt worden – sind eben meistens nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Die Entscheidungen erfordern ein hohes Maß an Abwägung, Genauigkeit und Sachverstand, und all das ist in der arbeitsteiligen Arbeit unseres Parlaments gewährleistet.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch Fehler gemacht werden. Wo wären wir! Für Fehler können und werden die politisch Verantwortlichen bei den nachfolgenden Wahlen aber zur Rechenschaft gezogen – in manchen Fällen auch juristisch. Ich frage Sie aber mal: Wer wird denn zur Rechenschaft gezogen, wenn wie in Berlin nach der Volksabstimmung 2014 über die Nachnutzung des Tempelhofer Flughafens 30 000 Wohnungen nicht gebaut werden können, obwohl die Mieten explodieren und Tausende Menschen keinen bezahlbaren Wohnraum finden? Niemand!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Im Anschluss muss das dann die Politik wieder richten. An der Stelle sage ich ganz klar: Eine Entscheidung ohne Kompetenz und Verantwortung bedeutet nicht mehr Demokratie, vielmehr kann sie zur Gefahr für die Demokratie werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hier sind wir auch beim Unterschied zu Ihnen, zur AfD. Ihnen geht es ja nur noch um das Wie; das haben Sie ja auch dargelegt. Sie wollen eine Enquete-Kommission einsetzen, die im Grunde nur noch – „nur noch“ in Anführungszeichen – die Details klärt. Wir sind anders. Uns geht es erst einmal um das Ob. Wir haben diese Frage noch nicht beantwortet.

Interessant sind Ihre Begründungen im Antrag. Ich habe ihn gelesen, obwohl die Zeit nur kurz war. Sie sprechen von „Wahlmüdigkeit“ und „Politikverdrossenheit“, von einem hohen „Zuspruch für direktdemokratische Mitbestimmung“ und von einer „Belebung ... der Demokratie auf Landes- und Kommunalebene“.

Schauen wir uns mal die Fakten an – die nehmen Sie ja nicht immer so genau –:

(Heiterkeit des Abg. Manuel Höferlin [FDP])

Wie hoch ist denn die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl? Bei der letzten Bundestagswahl lag sie mit 76 Prozent auf demselben Niveau wie bei der Wiedervereinigungswahl von 1991.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Doppelt so hoch wie bei der Volksabstimmung in der Schweiz!)

Seit drei Jahrzehnten ist die Wahlbeteiligung auf Bundesebene nahezu unverändert.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ihr habt das nicht geschafft!)

Jetzt kommen wir mal zu den positiven Beispielen, die Sie nennen, zu den USA und der Schweiz: Wie sieht in den USA die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen aus? Sie lag bei 59 Prozent und damit 17 Prozentpunkte niedriger als in Deutschland. Sie haben auch die Schweiz angeführt. Dort lag sie bei 48 Prozent, also ganze 28 Prozentpunkte niedriger als bei den deutschen Bundestagswahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, da sieht man das gute Beispiel!)

Kommen wir zum letzten Punkt, zur Belebung der Demokratie auf Länderebene; Sie haben es angesprochen. Wie sieht es denn mit der Belebung aus? Ich komme noch mal zu der Entscheidung zu Tempelhof von 2014 zurück. 46,1 Prozent der Wahlberechtigten haben damals diese Entscheidung getroffen. Bei der Wahl im Abgeordnetenhaus, die danach folgte, lag die Wahlbeteiligung um gut 20 Prozentpunkte höher.

Ein ähnlich umstrittenes Projekt ist Stuttgart 21. Dort haben 48,3 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, obwohl es hochumstritten war. Bei der nachfolgenden Landtagswahl waren es 18 Prozentpunkte mehr.

Hier müssen wir uns schon die Frage stellen: Warum soll es bei diesen Entscheidungen mehr Legitimität geben als bei den allgemeinen Wahlen?

Sie sehen selbst: Von Ihrer Argumentation bleibt an dieser Stelle nur wenig übrig. Die Beteiligung der Menschen an den allgemeinen Wahlen auf Bundesebene ist auf einem hohen Niveau. Das ist sie auch im internationalen Vergleich. Der Zuspruch der Wähler bei direktdemokratischen Abstimmungen, die Sie hier so positiv dargestellt haben, ist in aller Regel überschaubar. Auch dies zeigt: Direkte Demokratie bedeutet eben nicht, dass sie demokratischer ist als repräsentative Demokratie. Das Gegenteil ist häufig sogar der Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir uns die Faktenlage anschauen, dann fragen wir: Was reitet Sie eigentlich bei diesem Vorstoß? Eines ist doch ganz klar: Um die Stärkung der Demokratie geht es Ihnen ganz gewiss nicht.

(Dr. Roland Hartwig [AfD]: Doch! Genau darum!)

Ihr Antrag ist doch vielmehr der Versuch, für Ihre populistische Politik Mehrheiten durch die Hintertür zu bekommen, die Sie hier im Parlament nicht haben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Herr Gauland hat es ja nach der Wahl gesagt. Sie wollen die Regierung besser jagen können, auch wenn Sie dafür keine parlamentarische Mehrheit haben. Sie führen mit unserer Demokratie nichts Gutes im Schilde. Das liegt doch auf der Hand.

(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: 87 Prozent haben sie nicht gewählt!)

Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden den Koalitionsvertrag selbstverständlich umsetzen. Wir werden auch eine Expertenkommission einsetzen. Aber da werden wir uns von Ihnen nicht treiben lassen. Eines ist klar: Jede Stärkung der direkten Demokratie ist zugleich eine Schwächung des Parlaments. Deshalb müssen wir wachsam sein und sehen, wie wir diese Kommission zusammensetzen und wer da mitwirkt; denn klar ist auch: Es darf bei der Umsetzung keinen Automatismus geben.

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Herr Kollege, Sie müssen jetzt Ihren Schlusssatz sagen.

Christoph de Vries (CDU/CSU):

Das muss Gegenstand dieses parlamentarischen Verfahrens sein.

(Zuruf von der AfD: Sie haben Angst vorm Volk!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)