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Ralph Brinkhaus: Ja, dieses Land kämpft, und dieses Land kämpft in einer beeindruckenden Art und Weise

Redebeitrag zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lindner, es ist das Recht und die Pflicht der Opposition, die Regierung zu kritisieren und auch zu sagen, welche Entscheidungen falsch getroffen wurden. Das ist total in Ordnung, und darüber kann man sich sachlich unterhalten. Aber ernsthafte Bemühungen, dieses Land irgendwie vor einer schweren Pandemie zu retten, als Aktionismus zu bezeichnen, ist eines Liberalen unwürdig. Ihre Vorgänger hätten sich dafür geschämt, Herr Lindner. Sie hätten sich dafür geschämt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Was sagt denn Ihr Vorgänger, der hinter Ihnen sitzt? Lesen Sie doch mal seine Briefe!)

Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hat gesagt: Wir müssen kämpfen. – Ja, dieses Land kämpft, und dieses Land kämpft in einer beeindruckenden Art und Weise: Wenn ich sehe, mit wie viel Kreativität und Improvisationstalent in den Schulen der Unterricht weiterläuft, wo die Kinder in Jacken sitzen, wo die Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler Masken aufhaben. Wenn ich sehe, was im Gesundheitswesen läuft, wo die Leute – Rolf Mützenich hat es gerade angesprochen – immer wieder in die Pflegeheime hineingehen und versuchen, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Wenn ich sehe, was in den Betrieben passiert, wo intelligent versucht wird, mit klasse Konzepten den Betrieb aufrechtzuerhalten, damit die Wertschöpfungsketten auch erhalten bleiben.

(Zurufe von der AfD)

Wenn ich sehe, was die Gastronomie, die jetzt besonders hart betroffen ist, in den vergangenen Monaten geleistet hat.

Meine Damen und Herren, wenn ich insbesondere sehe, was momentan von den Familien geleistet wird, um durch diese Pandemie durchzukommen. Und wenn mir eine alte Frau sagt: „Ich habe nur noch zwei oder drei Jahre zu leben, und ich kann meine Enkelkinder nicht mehr sehen“, dann berührt das; dann berührt das, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, dafür gebührt den Menschen in diesem Land erst mal ein ganz dickes Dankeschön in dieser Debatte. Ich bin stolz auf dieses Land und bin stolz darauf, was hier geleistet wird, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Und die ganze Sache ist leider noch nicht zu Ende. Die Bundeskanzlerin hat es gesagt: Wir werden weiterkämpfen müssen. – In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob und wie wir Weihnachten feiern können. In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob unser Gesundheitssystem die Pandemie tragen kann. In den nächsten Wochen wird sich entscheiden, ob unser wirtschaftlicher Wohlstand erhalten werden kann.

(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Und in den nächsten Wochen wird sich auch entscheiden, wo Deutschland und Europa in dieser Welt stehen. Denn wir sehen nämlich eins, meine Damen und Herren: Totalitäre, autoritäre Systeme kommen mit Mitteln, die wir nicht einsetzen wollen, besser mit dieser Pandemie zurecht als wir.

(Dr. Marco Buschmann [FDP]: Quatsch! Wie kann man so einen Quatsch erzählen!)

Es geht darum, dass wir als offene, demokratische, plurale Gesellschaft beweisen, dass wir diese Pandemie auch in den Griff bekommen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Wie kann man Werbung für Autoritarismus im Zentrum der deutschen Demokratie machen!)

Deswegen werden wir hier in diesem Bundestag, wird diese Bundesregierung, werden die Landesregierungen kämpfen, kämpfen gegen diese Pandemie.

Ich kann Ihnen eins sagen: Wenn ich mir die Beschlüsse von gestern angucke, dann muss man die ganze Sache einfach mal bewerten. Beschlüsse müssen ehrlich sein, sie müssen klar sein, sie müssen einig sein, und sie müssen furchtlos sein, weil man den Menschen auch was zumuten muss. Und die Beschlüsse von gestern sind klar, einig, furchtlos, und sie muten den Menschen was zu, und das haben wir uns nicht ausgesucht.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Da ich jetzt auch die Vertreterinnen und Vertreter der Landesregierungen hier sehe: Ich bin sehr froh, dass es diesmal gelungen ist, Einigkeit herzustellen, dass wir keinen Flickenteppich haben, dass alle mitmachen. Das ist eine großartige Leistung, die gestern erreicht worden ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Diese Maßnahmen müssen auch eins machen: Sie müssen priorisieren, und die Priorität ist ganz klar Gesundheit. Danach kommt die Priorität – und zwar gleichrangig; das ist wichtig –, dass die Wirtschaftskreisläufe erhalten bleiben und dass Schulen und Kindergärten offen bleiben. Das war der Fehler im Lockdown am Anfang des Jahres. Das ist uns wichtig, und dafür stehen viele, viele andere Sachen dann auch zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beschlüsse müssen auch eins mitbringen: Sie müssen denjenigen helfen, die jetzt besonders betroffen sind. Deswegen, lieber Peter Altmaier, lieber Olaf Scholz, bin ich sehr froh, dass Sie gestern ein großes Programm aufgelegt haben, was insbesondere der Gastronomie hilft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt kann ich eins sagen – Herr Lindner hat gesagt: ja, das ist ja auch alles teuer; ja, das muss ja auch alles bezahlt werden –: Diese Menschen in der Gastronomie, im Beherbergungsgewerbe, in der Veranstaltungswirtschaft tragen für uns alle eine große Last und verdienen unsere Solidarität und verdienen auch das Geld, das wir dafür ausgeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ja, weil wir sie zumachen!)

Insofern kann ich nur eines sagen: Die Beschlüsse von gestern sind leider notwendig. Sie sind hart, aber sie sind angemessen, und deswegen werden sie von meiner Fraktion auch unterstützt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das hätte ich nicht erwartet!)

Es ist hier auch über die Rolle des Parlamentes geredet worden.

(Tino Chrupalla [AfD]: Schämen Sie sich!)

Es ist unsere Aufgabe hier in diesem Plenum, immer auch abzuwägen: Sitzt das Parlament noch auf dem Fahrersitz?

(Zurufe von der AfD: Nein!)

– Die Rolle der Opposition ist, das Ganze zu kritisieren. – Ich kann diese Frage beantworten. Ich könnte es mir jetzt sehr einfach machen und fragen: Welches Parlament auf dieser Welt hat in dieser Pandemie so viel Mitsprache wie der Deutsche Bundestag?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Lachen bei der AfD – Jan Korte [DIE LINKE]: Was ist das für eine Argumentation?)

Das ist aber nicht unser Maßstab.

(Zurufe von der AfD)

Ich könnte Ihnen erklären – da Sie wahrscheinlich nicht da waren –, dass dieser Bundestag in 70 Debatten, in vielen, vielen Gesetzgebungsvorhaben, in Haushaltsdebatten und durch Nachtragshaushalte den Rahmen dafür gesetzt hat, was diese Regierung machen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: Sie sind aber nicht der Sprecher der Bundesregierung!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie verwechseln hier etwas: Nur weil Sie sich mit Ihren Anträgen nicht durchgesetzt haben, versuchen Sie, die Arbeit des Parlaments dadurch zu diskreditieren, indem Sie sagen, dass dieses Parlament nicht mitredet.

Lieber Herr Lindner, Ihre Fraktion war es, die im Sommer beantragt hat, dass dieser Deutsche Bundestag erklärt, dass diese Pandemie keine nationale Tragweite mehr hat.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: So war es!)

Gut, dass wir nicht auf Sie gehört haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stephan Thomae [FDP]: Punktgenau reagiert!)

Ich könnte Ihnen einen Vortrag darüber halten, wie dieser Staat funktioniert. Ja, wir haben Gewaltenteilung. Es ist daher nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages, darüber zu entscheiden, wie hoch die Quadratmeterzahlen von Möbelhäusern sein müssen, damit sie offengehalten werden können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Bundestages, darüber zu entscheiden, ob sich 10 oder 15 Menschen treffen. Das ist die Aufgabe der Exekutive.

(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD] – Stephan Thomae [FDP]: Aber die kann es ja nicht!)

Wir haben einen Bund-Länder-Föderalismus. Es ist einfach so – kleine Nachhilfe in Verfassungskunde –: Die Rechtsdurchsetzung obliegt den Ländern und nicht dem Bund. Das kann man ändern wollen, aber es geht nicht, zu behaupten, dass das Parlament nicht beteiligt ist. Das ist falsch. Das ist unredlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zurufe der Abg. Beatrix von Storch [AfD] und Stephan Thomae [FDP])

Aber das entbindet uns natürlich nicht davon – Rolf Mützenich hat es gesagt –, immer wieder zu überprüfen: Ist das denn alles richtig?

(Zurufe von der AfD)

Eine Pandemie in dieser Dimension ist für uns eine neue Erfahrung. Deswegen werden wir den Überprüfungsprozess immer wieder durchlaufen. Im Übrigen haben wir die Regierung immer wieder korrigiert.

Wir debattieren nächste Woche über das Bevölkerungsschutzgesetz. Die ursprüngliche Fassung aus dem Kabinett sah anders aus. Das war unsere Arbeit als Koalitionsfraktionen. Das heißt, der Parlamentarismus in unserer Demokratie funktioniert.

(Stephan Thomae [FDP]: Hätten Sie das mal gemacht!)

Ich kann Ihnen eines sagen: Natürlich müssen wir uns darüber unterhalten, ob die Bund-Länder-Beziehungen so, wie sie momentan aufgestellt sind, leistungsfähig sind. Aber, Entschuldigung, ich kann doch jetzt nicht sagen: Liebes Covid-19, mach mal eine Pause, wir müssen erst unsere Bund-Länder-Beziehungen definieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heiterkeit der Abg. Ulli Nissen [SPD] – Ulli Nissen [SPD]: Schade!)

So geht es nicht. Wir müssen doch im Grunde genommen eines machen: Wir müssen diese Pandemie bekämpfen.

Jetzt komme ich zu einem großen Thema, das mir persönlich sehr wichtig ist,

(Christian Lindner [FDP]: Parteivorsitz!)

nämlich das Thema „Grundrechte und Freiheit“.

(Lachen bei der AfD)

Natürlich ist es so, dass Grundrechte und Freiheit eingeschränkt werden; das ist überhaupt keine Frage. Es ist unsere Aufgabe – Herr Lindner hat es gesagt, und ich denke, die Linken und die Grünen werden es gleich auch sagen –, immer wieder zu hinterfragen: War das richtig, und ist das angemessen? Denn Freiheit und Grundrechte sind das höchste Gut. Herr Gauland, ich fand das jetzt ein bisschen komisch, dass Sie gesagt haben: Leben ist nicht so wichtig. – Erzählen Sie das mal jemandem, der gerade seinen nahen Angehörigen verloren hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Pfui! Unerhört! – Weitere Zurufe von der AfD)

Aber Freiheit ist nicht nur die Freiheit der Starken und der Jungen. Freiheit ist auch die Freiheit der COPD-Patienten, die nicht mehr aus dem Haus kommen.

(Beatrix von Storch [AfD]: Sie Heuchler!)

Freiheit ist auch die Freiheit der Kinder, die nicht mehr beschult werden und bei denen keine Elternhäuser dahinterstehen, die helfen können.

(Martin Reichardt [AfD]: Die sitzen bei 10 Grad im Klassenraum!)

Freiheit ist auch die Freiheit der alten Menschen, die in den Pflegeheimen nicht mehr besucht werden können. Freiheit ist auch immer die Freiheit der Schwachen und der anderen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in dieser Covid-Pandemie treffe ich nie nur eine Entscheidung für mich selbst. Ich treffe immer auch Entscheidungen für andere mit. Ich treffe immer auch Entscheidungen für die Schwachen mit.

(Zuruf des Abg. Tino Chrupalla [AfD])

Wer den Freiheitsbegriff darauf reduziert, dass die Starken ihre Freiheit ausüben können, der degeneriert den Freiheitsbegriff zum Recht des Stärkeren, und das ist nicht die Politik der Christlich Demokratischen Union und der Christlich-Sozialen Union.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sebastian Münzenmaier [AfD]: So ein Quatsch!)

Ich kann Ihnen eines sagen – das habe ich schon im März gesagt –: Man kann viel korrigieren: Man kann wirtschaftliche Fehler korrigieren, man kann Schließungen korrigieren, vielleicht kann man sogar das korrigieren, was im Bildungssystem falsch läuft. Aber ich möchte eines an dieser Stelle noch mal ganz klar sagen: Der Tod eines Menschen, der Tod eines nahen Angehörigen ist irreversibel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn wir das nicht immer wieder zum Maßstab unseres Handelns machen, dann haben wir unsere Berufung und unsere Aufgabe hier verfehlt.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Ich bin der Meinung, dass dieses Parlament der Aufgabe nachgekommen ist, immer wieder auszubalancieren: Was ist an Grundrechtseinschränkungen notwendig, was ist möglich? Es gab darüber viele Diskussionen. Wir sind darüber in einem verstärkten Dialog. Ich bin auch der Meinung, dass die Bundes- und Landesregierungen sehr verantwortungsvoll damit umgegangen sind

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)

und immer wieder sehr ernsthaft abgewogen haben, was geht und was nicht geht.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Das kann man jetzt nicht behaupten in der Allgemeinheit!)

Deswegen unterstützen wir die Bundesregierung und die Landesregierungen auf diesem Weg. Aber das ist kein Blankoscheck; das ist ganz klar. Sie werden natürlich immer wieder auch hier Bericht erstatten müssen. Im Übrigen haben wir als Parlament jederzeit die Möglichkeit, das Infektionsschutzgesetz oder andere Gesetze zu ändern, Verordnungsermächtigungen zu begrenzen und vieles mehr, und dieses Recht, das werden wir uns auch nehmen.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Ist mir noch gar nicht aufgefallen!)

Meine Auffassung von Parlamentarismus ist es, die Regierung zu kritisieren, die Regierung zu kontrollieren. Meine Auffassung von Parlamentarismus ist es aber auch, in der größten Krise dieses Landes, in der größten Krise seit 1945, dort, wo es möglich ist, diese Regierung zu unterstützen. Denn eines ist klar: Wenn wir aus dieser Krise herauskommen wollen, dann kriegen wir das nur gemeinsam hin, und das sollte uns in diesen Diskussionen leiten.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD – Sebastian Münzenmaier [AfD]: Plattitüden!)