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Kai Whittaker: Weil Sozialpolitik in Europa nationalstaatlich gemacht wird, ist es so unterschiedlich

Rede zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbständige

Herr Präsident! Werte Kollegen! Wir stimmen gleich darüber ab, ob der deutsche Vertreter im Rat der vorliegenden Empfehlung zustimmen darf. Ich frage mich schon, warum zu einer solchen Banalität ausgerechnet die AfD-Fraktion eine namentliche Abstimmung beantragt hat. Wenn ich mir Sie anhöre, Herr Sichert, dann weiß ich die Antwort: Sie haben Angst, Angst vor Europa, weil Sie es nicht verstehen.

(Zurufe von der AfD – Abg. Martin Sichert [AfD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Gegen Verständnislosigkeit hilft Nachlesen. Deshalb möchte ich noch einmal zitieren, über was wir hier gleich abstimmen. Zitat:

Den Mitgliedstaaten wird empfohlen, allen Arbeitnehmern und Selbstständigen in den Mitgliedstaaten Zugang zu einem angemessenen Sozialschutz zu gewähren, … unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten …

Meine Damen und Herren, wer das heute Abend ablehnt, der ist in Wahrheit dagegen, dass Franzosen, dass Polen, dass Italiener, dass Rumänen, dass Schweden, dass Bulgaren Zugang zur Rente bekommen.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Kai Whittaker (CDU/CSU):

Nein.

(Zuruf des Abg. Kay Gottschalk [AfD])

Der ist dafür, dass sie keinen Zugang zur Arbeitslosenversicherung bekommen, dass sie keinen Krankenversicherungsschutz bekommen. Ich halte es für skandalös, dass Sie diesen Menschen das verwehren wollen, obwohl sie in diesem Land rechtmäßig sind, hier arbeiten und Steuern zahlen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben deshalb Angst vor Europa, weil Sie glauben, Europa mischt sich ein. Aber schauen wir uns doch mal die Empfehlungen an! Es geht darum, eine formelle Absicherung zu gewährleisten, sprich: abhängig Beschäftigte verpflichtend versichern und Selbstständige freiwillig versichern. Haken dran; das ist Rechtlage in Deutschland.

Es geht um eine tatsächliche Absicherung, also darum, dass man Beiträge zahlen muss, um Leistungen zu erhalten. Haben Sie schon mal was vom Äquivalenzprinzip in der Rente gehört? Wer mehr einzahlt, der bekommt auch mehr Geld raus. Auch da: Haken dran; ist Rechtslage in Deutschland.

Es geht um die Angemessenheit bei der Sozialversicherung, also darum, dass man zügig einen sozialen Schutz bekommt. Die Anwartschaftszeit bei der Rentenversicherung beträgt fünf Jahre, bei der Arbeitslosenversicherung maximal zweieinhalb Jahre. Auch da: Haken dran; ist Rechtslage in Deutschland.

Es geht um Transparenz – ich weiß gar nicht, warum Sie dagegen sind –, also darum, dass die Menschen verstehen, welche Leistungen sie warum bekommen. Bei den vielen Beratungen, die wir machen, können wir auch da sagen: Haken dran; ist Rechtslage in Deutschland.

Und es geht um die Evaluierung, also um eine Vergleichbarkeit der sozialen Systeme in Europa. Es geht nicht darum, ein einheitliches System zu implementieren. Weil Sozialpolitik in Europa nationalstaatlich gemacht wird, ist es so unterschiedlich. Weil wir es nicht vergleichen können, brauchen wir diese Evaluationsbasis. Deshalb müssen dem zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Und Sie haben auch Angst davor, dass Deutschland – angeblich -überfordert wird. Im Ausschuss lamentieren Sie ständig darüber, dass Rumänen, Bulgaren, Slowaken und Balten nach Deutschland kommen, um auf Kosten der Deutschen zu leben. Ich sage Ihnen, warum die Leute nach Deutschland kommen: Weil Deutschland Fachkräfte braucht,

(Lachen bei der AfD – Zuruf des Abg. Kay Gottschalk [AfD])

weil man in Deutschland gute Arbeit bekommt und weil man in Deutschland eine gute soziale Absicherung hat.

(Kay Gottschalk [AfD]: Machen Sie die Augen auf, und nutzen Sie die Brille!)

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie das in ihren Herkunftsländern nicht haben. Deshalb braucht es diese Empfehlung. Wenn Sie wollen, dass diese Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive haben, dann braucht es diese Empfehlung. Sie sollten mal zur Kenntnis nehmen, dass die Länder in Osteuropa nur die Hälfte von dem ausgeben, was in Westeuropa für sozialen Schutz aufgewendet wird. Damit sich das ändert, braucht es diese Empfehlung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich glaube, Sie haben nicht Angst vor Europa; Sie haben Angst vor der nächsten Europawahl. Ihnen gehen die Themen aus. Ihnen gehen die Flüchtlinge aus.

(Lachen bei der AfD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Bei Ihrer Politik kommen immer mehr!)

Deshalb brauchen Sie jetzt den sozialen Neid, und den schüren Sie.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich kann jedem Kollegen nur zurufen: Wer möchte, dass der soziale Zusammenhalt in Europa gestärkt wird, der stimmt jetzt zu.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)