Skip to main content

Dr. Georg Nüßlein: Es ist naheliegend, dass die Widerspruchslösung den Widerspruch als den Normalfall definiert

Rede in der Debatte zu Organspenden

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Erstens müssen wir doch feststellen, dass bestehende Strukturen und Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland erkennbar versagt haben. Das gilt auch für die erweiterte Zustimmungslösung. Das ist Fakt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Sabine Dittmar [SPD])

Zweitens. Ich verstehe, was die Kollegin gerade eben zur Verhältnismäßigkeit juristisch vorgetragen hat. Aber, meine Damen und Herren: Daraus abzuleiten, jetzt einen langwierigen Prozess kleiner Schritte einzuleiten, halte ich mit Blick auf die vielen Betroffenen, die leiden, für nicht den richtigen Weg. Aus Sicht von jemandem, der auf ein Spenderorgan wartet, gibt es keine Zeit zu verlieren.

Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich für die Widerspruchslösung bin, weil ich der festen Überzeugung bin, dass das Recht auf Selbstbestimmung nicht in unzulässiger Weise angetastet wird. Den Kritikern geht es im Kern nur um das Recht, sich nicht mit Tod und Organspende beschäftigen zu müssen, also nur um einen ganz kleinen Teil der Selbstbestimmung. Ich will gar nichts dazu sagen, wie lebensfremd es ist, sich damit nicht beschäftigen zu wollen. Aber, meine Damen und Herren, wenn die Widerspruchslösung zum Tragen käme, wäre es in Zukunft genau umgekehrt:

(Zuruf des Abg. Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU])

Die, die der Spende aufgeschlossen gegenüberstehen, müssen sich nicht mit der Thematik beschäftigen und müssen sich nicht entscheiden.

Nun will ich an dieser Stelle, auch mit Blick auf die Zeit, nicht die vielen juristischen Argumente zur Verfassungsmäßigkeit bemühen, aber ich bitte, zwei Fälle in Augenschein zu nehmen, die der Thematik ziemlich nahekommen: Das sind das Testament und die Patientenverfügung. Schreibe ich kein Testament, bin ich einverstanden mit der Erbfolge, die der Gesetzgeber vorgibt. Mache ich keine Patientenverfügung, bin ich einverstanden damit, dass lebenserhaltende Maßnahmen getroffen werden, ich am Schluss an Maschinen hänge.

(Stephan Thomae [FDP]: Das ist falsch! – Weitere Zurufe von der FDP)

Übrigens ist das in der Konsequenz für den Betroffenen noch viel weitergehender als die Organspende bei Hirntod.

(Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Der mutmaßliche Wille ist entscheidend!)

Angesichts der Widerspruchslösung sprechen Kirchen von einem Paradigmenwechsel. Ich sage Ihnen: Genau diesen Paradigmenwechsel will ich. Es ist bei uns der Normalfall, dass man, wenn man krank wird und ein Organ braucht, dann darauf hofft, eines zu bekommen; leider Gottes vielfach umsonst. Dann kann und muss es doch, meine Damen und Herren, der Normalfall sein, dass man grundsätzlich zur Spende bereit ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb ist es naheliegend, dass die Widerspruchslösung den Widerspruch als den Normalfall definiert. Das ist mir ein Anliegen.

Ich zitiere die Kirchen: Sie sprechen, wie ich meine, zu Recht, von der Organspende als Akt der Nächstenliebe. Meine Damen und Herren, für einen Christenmenschen ist die Nächstenliebe nicht der Ausnahmefall, sondern der Normalfall. Deshalb bin ich der festen Überzeugung: Wir sind auf einem guten Weg, wenn wir hier sehr umfassend darüber nachdenken, wie man das Verfahren reformieren kann. Natürlich muss man dazu Vertrauen schaffen. Ich bin froh, dass hier bisher noch niemand aufgetreten ist, der generell über das Hirntodkonzept diskutiert. Auch ich sehe, dass es Skandale, Allokationsskandale gegeben hat. Man muss ganz klar sagen: Es hat sie auch deshalb gegeben, weil wir zu wenig Spenderorgane haben. Deshalb macht es Sinn, dass wir diese Diskussion hier vertiefen, sodass wir am Schluss, glaube ich, zu einem Ergebnis kommen, das die Situation so oder so verbessern wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)