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Dr. Angela Merkel: "Wir müssen die dritte Welle der Pandemie bremsen"

Viertes Bevölkerungsschutzgesetz

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die letzte Beratung von Bund und Ländern zur Pandemiebekämpfung am 22. März 2021 habe ich – das habe ich ja auch öffentlich gesagt – als Zäsur empfunden. Ich weiß, dass es nicht nur mir so gegangen ist, sondern vielen von uns.

Zugleich wissen wir: Es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen die dritte Welle der Pandemie bremsen und den rapiden Anstieg der Infektionen stoppen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Um das endlich zu schaffen, müssen wir die Kräfte von Bund, Ländern und Kommunen bessern bündeln als zuletzt. Deshalb ziehen wir jetzt die im Wortsinne notwendigen Konsequenzen aus der Zäsur des 22. März. Am Dienstag hat die Bundesregierung dazu den Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Kabinett beschlossen, und heute beraten wir ihn in erster Lesung in diesem Hause.

(Martin Reichardt [AfD]: Ein Schandgesetz!)

Diese Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes heißt – auf den wichtigsten Nenner gebracht –: Wir setzen die Notbremse bundesweit um. Die bundeseinheitlich geltende Notbremse ist nach meiner Überzeugung dringend, sie ist überfällig.

(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Denn ich muss es auch heute leider wieder sagen: Die Lage ist ernst, und zwar sehr ernst. Wir alle müssen sie auch ernst nehmen. Die dritte Welle der Pandemie hat unser Land fest im Griff. Das sagen die täglichen Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts, das sagt die Entwicklung des R‑Werts, und das sagen vor allem die Zahlen der belegten Intensivbetten, gerade auch in dieser Woche. Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist das!)

Wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das dürfen wir nicht. Wir dürfen Ärzte und Pfleger nicht alleine lassen.

(Martin Reichardt [AfD]: Erst haben Sie das Gesundheitssystem kaputtgemacht, um das jetzt zu nutzen, für dieses Gesetz!)

Alleine können sie den Kampf gegen das Virus in dieser dritten Welle auch mit bester medizinischer Kunst und dem aufopferungsvollsten Einsatz nicht gewinnen. Sie brauchen unsere Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Martin Reichardt [AfD]: Wo ist eigentlich: „Kinder brauchen die Unterstützung!“?)

Sie brauchen die Unterstützung von Staat, Politik, Gesellschaft. Ärzte und Pfleger brauchen die Unterstützung von uns Bürgerinnen und Bürgern, von uns allen. Deshalb müssen wir unsererseits alles tun, um die dritte Welle zu bremsen, um sie zu brechen und sie umzukehren. Deshalb müssen wir die Pandemiebekämpfung von Bund und Ländern mit der bundesgesetzlichen Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes auf neue Füße stellen.

Genau das ist die bundeseinheitliche Notbremse, über die wir heute beraten. Wo die Inzidenz über 100 liegt, sollen künftig bundeseinheitliche Regelungen gelten. Die Notbremse ist dann nicht mehr Auslegungssache, sondern sie greift automatisch. Und neben der schon im Arbeitsschutzrecht vereinbarten Pflicht zum Homeoffice – wo immer das möglich ist – und der Pflicht von Arbeitgebern, in Zukunft – ab nächster Woche – Tests mindestens einmal in der Woche, zum Teil auch zweimal in der Woche, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anzubieten,

(Karsten Hilse [AfD]: Zehnmal! Stündlich!)

bin ich mir sehr wohl bewusst, dass hier in diesem Gesetz harte Einschränkungen vereinbart werden für alle Kreise, in denen die Inzidenz oberhalb von 100 liegt:

(Karsten Hilse [AfD]: Vollkommen egal!)

Kontaktbeschränkungen, Schließungen von Geschäften, Kultur- und Sporteinrichtungen, nächtliche Ausgangsbeschränkungen.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Nur nicht warten!)

Gerade über die Ausgangsbeschränkungen gibt es ja eine intensive Diskussion des Für und Wider,

(Martin Reichardt [AfD]: Die werden Sie schon abwürgen!)

sowohl hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Freiheitseinschränkungen

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Die Freiheit steht nicht zu Ihrer Disposition!)

als auch nicht zuletzt darüber, ob sie überhaupt etwas bringen. Diese Einwände nehme ich ernst,

(Zurufe von der AfD)

und ich setze mich natürlich auch mit ihnen auseinander. Ich möchte das auch hier tun.

Zunächst. Ausgangsbeschränkungen sind keine neue Erfindung.

(Martin Reichardt [AfD]: Stimmt! Die gab es schon mal! – Weiterer Zuruf von der AfD: In der DDR! – Martin Reichardt [AfD]: Ja, das haben Sie als „Vopo“ gekannt! Das stimmt!)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Bundeskanzlerin, darf ich eine allgemeine Bemerkung machen? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, was immer wir für eine Meinung im Einzelnen haben: Glauben Sie angesichts der Notlage und der Sorgen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, dass wir dem nicht auch in der Art, wie wir das hier debattieren, Rechnung tragen müssen? Ich bitte Sie doch herzlich.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ausgangsbeschränkungen sind keine neue Erfindung. Sie sind im aktuell geltenden Infektionsschutzgesetz als Maßnahme bereits angelegt und in mehreren Bundesländern bereits seit Monaten angewandt. Auch eine Vielzahl anderer Staaten – Großbritannien, Irland, Frankreich, die Niederlande, Portugal – hat Ausgangsbeschränkungen praktiziert oder praktiziert sie noch.

(Stephan Brandner [AfD]: Nordkorea!)

Warum machen diese Länder das, zum Teil im Übrigen erheblich restriktiver, als wir das überlegen? Und warum steht diese Maßnahme auch heute in unserem Gesetzentwurf? Weil es in der Pandemiebekämpfung stets um die Reduzierung von Kontaktmöglichkeiten gehen muss, muss es immer auch um die Reduzierung von Mobilität gehen.

Ich höre sehr wohl, wenn manche Aerosolforscher darauf hinweisen, dass man sich im Freien sehr viel weniger ansteckt als in geschlossenen Räumen. Aber bei der Ausgangsbeschränkung geht es ja um etwas anderes. Es geht darum, abendliche Besuchsbewegungen von einem Ort zum anderen, im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs, zu reduzieren.

Das heißt also für mich: Ausgangsbeschränkungen sind natürlich kein Allheilmittel gegen die Ausbreitung des Virus. Sie können ihre Wirkung in der Kombination mit anderen Maßnahmen entfalten, zum Beispiel auch mit strengen Kontaktbeschränkungen. Und so müssen wir dann entscheiden, ob der mit der Ausgangsbegrenzung verbundene Effekt den Nachteil – den natürlich nicht zu leugnenden erheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit – rechtfertigen kann, ob Ausgangsbeschränkungen also unter Abwägung des Für und Wider eine geeignete, verhältnismäßige und erforderliche Maßnahme sind.

(Martin Reichardt [AfD]. Ja, und das sind sie nicht!)

Und ich komme zu dem Ergebnis: Ja, die Vorteile dieser Maßnahme im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Pandemie überwiegen die Nachteile.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Deshalb möchte ich auch für diese Maßnahme in der Form, wie wir sie im Gesetz vorgeschlagen haben, werben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte auch für weitere Maßnahmen des Gesetzentwurfs werben, obwohl sie gegenwärtig natürlich im parlamentarischen Verfahren alle heiß diskutiert werden. Schulen und Kitas spätestens ab einer Inzidenz von 200 schließen: ja oder nein? Homeoffice noch stärker durchsetzen: ja oder nein? Verpflichtendes Testangebot von Arbeitgebern: ja oder nein? Click-and-meet in Geschäften: ja oder nein?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kenne die Diskussion sehr wohl. Ich habe menschlich auch jedes Verständnis

(Detlev Spangenberg [AfD]: Nein! Nein, haben Sie nicht!)

für den Impuls, hier eine Erleichterung zu suchen, dort Maßnahmen etwas weniger streng zu gestalten bzw., wenn ich es bewusst etwas zugespitzt sagen darf, hier ein Schlupfloch zu suchen und dort jenes. Aber wenn das den Betroffenen wirklich helfen würde, wäre ich sofort dabei. Aber das tut es nicht, im Gegenteil.

(Zuruf des Abg. Tino Chrupalla [AfD])

Wenn wir nach 13 Monaten Pandemie eine Lektion doch wirklich gelernt haben, dann ist das diese: Das Virus verzeiht keine Halbherzigkeiten; sie machen alles nur noch schwerer. Das Virus verzeiht kein Zögern; es dauert alles nur noch länger. Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Es versteht nur eine einzige Sprache: die Sprache der Entschlossenheit. Entschlossenheit jetzt hilft am Ende allen so viel mehr – davon bin ich überzeugt –, als wenn wir jetzt wieder zögern und halbherzig vorgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Alle Maßnahmen haben ein einziges Ziel: unser ganzes Land aus dieser furchtbaren Phase der stetig steigenden Infektionszahlen, der sich füllenden Intensivstationen, der bestürzend hohen täglichen Zahl der Coronatoten herauszuführen, und zwar zum Wohle aller, und dies eher, als wenn wir uns weiter durch diese Zeit irgendwie hindurchschleppen.

Wir haben es doch schon einmal geschafft. Wir können es auch jetzt wieder schaffen

(Stephan Brandner [AfD]: „Wir schaffen das!“ – Lachen des Abg. Stephan Brandner [AfD])

und haben jetzt, anders als im letzten Jahr, auch die Impfkampagne, die uns ja enorm hilft. Seit die Hausärzte mitmachen – auch die Betriebsärzte werden noch hinzukommen –, geht es richtig voran.

Die Notbremse ist also das Instrument, die drohende Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern.

(Zuruf von der AfD: Wir brauchen eine Regierungsnotbremse!)

Systematisches Testen ist das Mittel, bei niedrigeren Inzidenzen kontrollierte und nachhaltige Öffnungen zu ermöglichen, und das Impfen ist der Schlüssel, die Pandemie zu überwinden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann diese Rede nicht schließen, ohne auch heute wieder den Bürgerinnen und Bürgern zu danken. Wir Politiker machen es ihnen wirklich nicht immer leicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber diese übergroße Mehrheit der Bürger macht und hilft unverändert mit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist das!)

Ich danke für ihre Geduld, für ihre Einsicht, für ihre Fürsorge für andere und unser ganzes Land, auch nach dieser langen, langen Zeit immer noch.

Danken möchte ich auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen wie auch der Oppositionsfraktionen, für Ihre kritisch-konstruktive Mitarbeit

(Stephan Brandner [AfD]: Gerne doch!)

und für die Bereitschaft, den Gesetzentwurf in Bundestag und Bundesrat zügig zu beraten. Denn machen wir uns nichts vor: Jeder Tag zählt. Jeder Tag früher, an dem die Notbremse bundesweit angewandt ist, ist ein gewonnener Tag.

(Zuruf von der AfD: Zynisch!)

Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung, damit uns dieses wichtige Gesetz sehr bald helfen kann, die dritte Welle zu brechen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)