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Dr. Andreas Nick: "Parlamentarier gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis"

Aktuelle Stunde | Angriff auf die Menschenrechte in der Türkei

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkei ist seit 1950 de facto Gründungsmitglied des Europarats. Damit hat sie sich selbst zur Einhaltung höchster Standards im Hinblick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verpflichtet. Es ist unbestreitbar, dass sich die türkische Regierung mehr und mehr von diesen elementaren Verpflichtungen entfernt. Damit gerät die innere Verfasstheit der Türkei aber auch immer stärker in Gegensatz zu ihren eigenen strategischen Interessen; denn zu diesen gehört zweifelsohne eine möglichst enge Anbindung an Europa.

Ich will festhalten: Die Bürgerinnen und Bürger der Türkei haben in den letzten Jahren immer wieder ihre besondere Wertschätzung für die parlamentarische und pluralistische Demokratie zum Ausdruck gebracht, nicht zuletzt durch hohe Wahlbeteiligungen bei nationalen wie kommunalen Wahlen. Fairer und offener politischer Wettbewerb bei freien Medien ist aber eine grundlegende Voraussetzung für den demokratischen Prozess. Nur so kann eine legitime Vertretung der Vielfalt von Meinungen und Interessen aller Bürgerinnen und Bürger eines Landes erreicht werden.

In aller Klarheit: Politische Konkurrenten zu kriminalisieren, gewählte Bürgermeister in großer Zahl ihres Amtes zu entheben, Parlamentsabgeordneten ihr Mandat zu entziehen oder sie gar zu verhaften – das ist völlig inakzeptabel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

In aller Klarheit: Parlamentarier gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die HDP durch die türkische Generalstaatsanwaltschaft ist nun eine weitere Eskalation auf diesem Weg.

Zu den vorrangigen Verpflichtungen eines Mitgliedstaates im Europarat gehören die Einhaltung und Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Wir fordern daher mit allem Nachdruck, dass die Türkei dieser Verpflichtung in einer Reihe prominenter Fälle endlich umfassend nachkommt.

(Beifall des Abg. Frank Schwabe [SPD])

Insbesondere der Kulturförderer Osman Kavala und der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas müssen endlich freigelassen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir begrüßen ausdrücklich, Herr Staatsminister Roth, dass die Bundesregierung die Umsetzung der Urteile des EGMR zu einer ihrer obersten Prioritäten in ihrem Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates gemacht hat. Mit Blick auf die Türkei hat das jetzt auch klare Konsequenzen: Die Fälle Kavala und Demirtas werden künftig – das haben Sie am Freitag angekündigt – bei jeder Sitzung des Ministerkomitees auf der Tagesordnung stehen, bis sie zufriedenstellend geklärt sind. Es muss allen klar sein: Wenn es hier nicht zu einer Lösung kommt, stellt die Türkei ihre Mitgliedschaft im Europarat selbst infrage.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das haben wir auch am Freitag im Ständigen Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung sehr deutlich gemacht.

Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass wenige Stunden später Staatspräsident Erdogan den Rückzug der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – das ist die sogenannte Istanbul-Konvention – verkündet hat. Das ist umso unverständlicher und schmerzhafter, da es ja ursprünglich die Türkei selbst war, die dieses Abkommen während ihres Vorsitzes im Ministerkomitee vor gut zehn Jahren vorangetrieben hat. Und es war die Große Nationalversammlung der Türkei, die 2012 als erstes Parlament überhaupt die Istanbul-Konvention ratifiziert hat – damals übrigens einstimmig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt gegen Frauen, insbesondere häusliche Gewalt, zu verhindern, den Opfern Schutz und Hilfe zu gewährleisten und die Täter strafrechtlich zu verfolgen – im Hinblick auf diese Ziele kann es in unserer Zeit doch nicht ernsthaft Dissens geben. Wir rufen die türkische Regierung deshalb dringend auf, die Frauen in der Türkei dieses wichtigen Instruments gegen Gewalt nicht zu berauben und das europaweite Schutzsystem der Konvention nicht zu schwächen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir im Westen haben mit Blick auf die Türkei unsererseits weiterhin ein vitales Interesse an einer prosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen Zivilgesellschaft und mit einer starken Orientierung nach Westen und mit einer Anbindung an Europa. Es ist gut, dass es in den letzten Wochen zwischen der EU und der Türkei wieder zu vermehrtem Dialog in außenpolitischen Fragen gekommen ist; das ist zur Überwindung einiger aktueller Konflikte dringend notwendig. Aber es ist völlig klar: Einer positiven Agenda sind äußerst enge Grenzen gesetzt, wenn die Türkei ihren elementaren Verpflichtungen als Mitglied des Europarates nicht nachkommt und ihre institutionelle Anbindung an Europa damit weiter erodiert.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)