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Melanie Bernstein: "All diese Menschen sind Opfer"

Rede zur Anerkennung von NS-Opfergruppen

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast einem Jahr haben wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages schon einmal über die Anerkennung der Opfergruppen der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher diskutiert. Seinerzeit ging es um einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dessen Inhalt meine Fraktion nicht in allen Punkten zustimmen konnte. Gründe dafür habe ich in meiner Rede vom April 2019 ausführlich dargelegt.

(Hartmut Ebbing [FDP]: Wir erinnern uns!)

Zunächst einmal teilen wir die Einschätzung nicht, dass – ich zitiere aus dem Antrag – auch „74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz das Schicksal der Betroffenen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt“ ist. Der zweite Diskussionspunkt bestand in einem fundamentalen Unterschied im Verständnis der Mechanismen der Gedenkkultur in Deutschland. Nach unserer Auffassung sind Gedenkstätten und Dokumentationszentren nämlich grundsätzlich frei in der Schwerpunktsetzung und inhaltlichen Gestaltung ihrer Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen.

Ich erwähne diese Punkte hier nochmals verkürzt, um zu verdeutlichen, dass es in meiner Fraktion eben keinen Zweifel daran gab, dass die im Nationalsozialismus sogenannten Berufsverbrecher und Asozialen eine Anerkennung als Opfer verdienen. Von Beginn der parlamentarischen Diskussion an – in den Arbeitsgruppen, im Ausschuss, in öffentlichen Anhörungen – waren sich alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD grundsätzlich einig, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich räume auch gern ein, dass es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen war, die das Thema zuerst auf unsere politische Agenda gesetzt und mit dem ersten Antrag dazu die konstruktive Diskussion, die wir bis heute führen, angestoßen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marianne Schieder [SPD]: Das steht schon im Koalitionsvertrag!)

Wir haben seit dem vergangenen Jahr in verschiedenen Gremien oft und ausführlich über das Thema gesprochen, zuletzt im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 6. November 2019. Mit Ausnahme der AfD waren wir uns alle einig, was die Anerkennung der Opfer, die Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins, die Erweiterung der staatlichen Gedenkkultur und die Förderung der wissenschaftlichen Erforschung betrifft.

Ausdrücklich danken möchte ich an dieser Stelle den vier Sachverständigen, die uns in unserem politischen Entscheidungsprozess mit ihrer Expertise sehr geholfen haben: Dr. Ulrich Baumann von der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, Dr. Julia Hörath vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Dr. Dagmar Lieske von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und besonders Professor Dr. Frank Nonnenmacher, der sich durch jahrelanges Engagement und unermüdliche Arbeit viele Verdienste erworben hat, was die volle Anerkennung der sogenannten Berufsverbrecher und Asozialen als Opfer des Nationalsozialismus betrifft.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An die Adresse der AfD-Fraktion, die festgestellt hat, dass eine Gleichstellung mit anderen Opfern nicht infrage kommt, weil die SS gern sogenannte Kriminelle als Kapos eingesetzt hat, möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Zu den Asozialen zählten die Nazis Wohnungslose, Wanderarbeiter oder Frauen, die als sexuell verwahrlost galten. Der Begriff „asozial“ war nicht genau definiert. Er konnte bewusst breit ausgelegt werden und diente daher als Instrument der Unterdrückung.

Die als Berufsverbrecher in Konzentrationslagern Inhaftierten waren zumeist Kleinkriminelle mit mehreren Vorstrafen. Nach Verbüßen ihrer Haftstrafe wurden sie in ein Konzentrationslager eingeliefert ohne irgendeine rechtliche Grundlage. Ab 1942 wurden sie sämtlich zur sogenannten Vernichtung durch Arbeit freigegeben. Ich sehe hier keinen Bedarf für eine Einzelfallprüfung, wie die AfD es möchte. All diese Menschen sind Opfer, und sie verdienen es, rehabilitiert und öffentlich anerkannt zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In unserem Antrag heißt es daher: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet.“

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Diese Feststellung sollte unter allen hier Anwesenden Konsens sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was die oft in den Medien diskutierte Frage der finanziellen Wiedergutmachung betrifft, so führt unser Antrag dazu, dass Betroffene durch die volle Anerkennung als NS-Opfer endlich Leistungen nach dem Kriegsfolgengesetz, sprich: eine Entschädigung, erhalten können. Es ist natürlich keine Sternstunde für unser Land, dass diese finanzielle und gesellschaftliche Anerkennung erst 75 Jahre nach Kriegsende erfolgt,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

zumal die übergroße Zahl der Opfer, die die Gewaltherrschaft der Nazis überlebt hat, ihre späte Gerechtigkeit nicht mehr erleben kann. Dennoch bin ich dankbar, dass es uns nun gelungen ist, gemeinsam mit den Sachverständigen zu einer für uns alle tragfähigen Lösung zu kommen. Ich möchte Sie daher bitten, unserem Antrag Ihre Zustimmung zu geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)