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Dr. Dietlind Tiemann: "Wir brauchen eine sinnvolle Ergänzung durch die digitale Technik"

Smart Germany – Learning Analytics und Künstliche Intelligenz in der Schule fördern, Lerndaten schützen

Mittlerweile existiert kaum noch ein Lebensbereich, der nicht unmittelbar von der Digitalisierung berührt, häufig sogar geprägt wird. Wir haben diese Entwicklung manchmal als einen sprunghaften, aber in jedem Fall konstant anhaltenden Prozess wahrgenommen. Nicht selten gleichen wir diesen mit dem ab, was wir „von früher“ kennen, auch wenn sich diese Vergangenheit in Jahren deutlich unterscheiden mag.

Beispielsweise erzählen wir uns ungläubig davon, wie man ohne Mobiltelefone kommuniziert, sich orientiert, informiert und Notizen verwaltet hat. Wir mussten uns präziser verabreden, Karten und Umgebungen lesen lernen, Lexika benutzen und Kalender führen. Diese Selbstverständlichkeiten mehrerer Generationen sind heute im Alltag – und damit ist in großen Teilen auch der Schulalltag gemeint – nicht mehr präsent.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Der technologische Fortschritt ist in erster Linie eine immense Erleichterung der täglichen Dinge, ich selbst könnte mir weder meinen Beruf noch mein Privatleben ohne die vielen Vorteile der Digitalisierung vorstellen. Auch möchte ich nicht jenen das Wort reden, die vor allem die Risiken oder Gefahren darin sehen, wie etwa die Veränderung der Arbeitswelt.

Wenn es aber um die Bildung von Kindern und Jugendlichen geht, muss ein Spagat gelingen: Es kann nichts anderes das Ziel sein, als junge Menschen mithilfe von digitaler Technologie fit für eine von dieser geprägten Welt zu machen. Das heißt, dass Kinder von Beginn an einen pädagogisch geeigneten, sinnvollen Zugang zu Technik und Software haben sollen.

Es gibt – da haben die Kollegen von der FDP recht – zahlreiche innovative digitale Lernmittel, die durch geschulte Lehrkräfte optimal genutzt werden können. Durch den DigitalPakt Schule kann sich in den nächsten Jahren flächendeckend vieles bewegen lassen. Mir scheint aber, dass Sie mit Ihrer Forderung nach einem Digitalpakt 2.0 zum jetzigen Zeitpunkt die Realitäten und Herausforderungen an unseren Schulen verkennen und weit übers Ziel hinausschießen. Vielerorts wäre  man wohl froh, könnte man sich mit den Hürden bei den Learning Analytics befassen und nicht mit den grundlegenden Inhalten von Schule.

Traurige Fakten sind aber: 18,5 Prozent der 10-jährigen Kinder sind heute funktionale Analphabeten, können nicht sinnentnehmend lesen. Schülerinnen und Schüler schreiben langsamer, immer unleserlicher und bekommen beim Schreiben schnell Krämpfe in der Hand. Gleichzeitig weisen Wissenschaftler nach, dass das Erlernen der Handschrift in der kindlichen Entwicklung wichtige neuronale Vernetzungen fördert. Schreib- und Lesevermögen werden laut entwicklungspsychologischen Studien nur ausgebildet, wenn man mit der Hand schreibt.

Universitäten und Betriebe verzweifeln an den Mathematikleistungen ihrer Auszubildenden und Studierenden, die ohne technische Hilfsmittel nicht in der Lage zum Kopfrechnen oder zu einfachen Dreisatzlösungen sind. Das legt nahe, dass diese elementaren Fähigkeiten nicht ausreichend eingeübt wurden und hier in den Lehrplänen nachgebessert werden muss.

Mein nachdrücklicher Wunsch ist es, dass all jene „analogen“ Fähigkeiten und, ja, Kulturtechniken über der notwendigen Digitalisierung von Bildung nicht aus dem Blick geraten. Für mich ist es in keiner Weise vertretbar, dass meine Bedenken vor einem Verlust „traditioneller“ Lerninhalte mit einem knappen „Das brauchen wir alles nicht mehr“ vom Tisch gewischt werden.

Gemeinsam müssen wir darauf hinwirken, dass sich digitale und analoge Kompetenzen nebeneinander erlernen lassen und nicht in Konkurrenz zueinander gestellt werden. Bildung basiert auch auf dem Erlernen des Lernens, und wir brauchen eine sinnvolle Ergänzung der bewährten Inhalte durch digitale Technik, nicht deren Ersatz.