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Gunther Krichbaum: Es geht um den Zusammenhalt, um die Solidarität

Redebeitrag zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland übernimmt die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union in einer sehr schwierigen Situation. Es sind in der Tat große Herausforderungen, und die Erwartungen sind genauso groß. Graf Lambsdorff, wir wissen beide, dass Ratspräsidentschaften in der heutigen Zeit allenthalben eher überschätzt werden. Gleichwohl ist es tatsächlich jetzt an uns, wichtige Akzente zu setzen.

Es klang schon an, auch bei Johannes Schraps: 2007 haben wir die Präsidentschaft in einer analog schwierigen Situation übernommen. Die Situation war nach den negativen Referenda in den Niederlanden und Frankreich über die europäische Verfassung denkbar verfahren. Es gab dann den Ehrgeiz, diese europäische Verfassung, die ja gescheitert war, in der Substanz zu retten. Das hat in der Tat – das würde ich schon sagen wollen – zu gut 90 Prozent die deutsche Ratspräsidentschaft auch geschafft.

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das stimmt!)

Bis zum heutigen Tag bin ich froh, dass es nicht 100 Prozent waren, weil sonst der Vertrag „Vertrag von Berlin“ und nicht „Vertrag von Lissabon“ heißen würde. Wir müssen mit diesem Etikett „Vertrag von Berlin“ den Brexit und vieles andere mehr managen und Rechtsstaatlichkeit einfordern. Das könnte sehr leicht auch als eine Majorisierung in der Europäischen Union empfunden werden.

Aber – das hat Johannes Schraps genauso zu Recht auch betont – wir sind in eine Triopräsidentschaft eingebettet; das sichert die Kontinuität. Ich würde sogar den Blick noch darüber hinaus werfen wollen, weil in der ersten Jahreshälfte 2022 Frankreich die Ratspräsidentschaft übernehmen wird. Das ist auch der Grund dafür, warum wir heute schon mit Frankreich vieles in der Substanz abstimmen, so auch die EU-China-Strategie. Der Gipfel in Leipzig, der für September anberaumt war, wurde jetzt verschoben. Gleichwohl gilt es natürlich, diese Themen dann auch anzupacken.

Die großen Herausforderungen sind ohne jeden Zweifel der Zusammenhalt der Europäischen Union als solche und die Redynamisierung der europäischen Wirtschaft. Die Zahlen hat Katja Leikert vorhin schon genannt: rund 6,7 Prozent Wirtschaftsrückgang allein in der Bundesrepublik Deutschland, 7,7 Prozent – das ist noch mehr – in der EU. Machen wir uns nichts vor: In der Breite der Bevölkerungen sind diese Wirkungen noch gar nicht angekommen. Aber die Flutwelle kommt; das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir jetzt die Maßnahmen ergreifen, jetzt die Instrumente zur Verfügung stellen. Es war wichtig und gut, dass Deutschland und Frankreich, Angela Merkel und Emmanuel Macron, hierzu einen Kompromiss haben auf den Tisch legen können.

Graf Lambsdorff, ein Punkt, auf den ich gerne eingehen möchte: Warum Zuwendungen und nicht Kredite? Nehmen wir nur mal als Beispiel Portugal. Portugal hat heute eine Staatsschuldenquote von ungefähr 117 Prozent. Würden wir nur mit Krediten arbeiten, wäre das Land schnell wieder bei 140, 150 Prozent Staatsschuldenquote und damit zurückkatapultiert in die Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009/2010, mit allen Konsequenzen, mit der Angreifbarkeit, mit Wetten der Finanzmärkte gegen Länder, gegen den Euro. Ob die EZB dann die Kraft hätte, ein „Whatever it takes 2.0“ aufzulegen? Ich habe meine Zweifel.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen ist das Vorgehen gut. Rein merkantil betrachtet, können wir von deutscher Seite schon sagen: Ja, das sind alles unsere Märkte. – Wir haben also ein durchaus eigenes Interesse daran, dass die Länder um uns herum nicht notleidend werden.

Aber das alleine macht Europa nicht aus. Es geht um wesentlich mehr. Es geht um den Zusammenhalt, um die Solidarität. Das ist die Europäische Union.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zusammen können wir mehr bewirken als jeder Mitgliedstaat für sich alleine. „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ – das muss die Losung sein. Wenn wir das berücksichtigen bei den jetzt anstehenden Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen, zu den Coronahilfen, natürlich auch bei den Themen Rechtsstaatlichkeit, Klimaschutz, Digitalisierung, aber vor allem auch, wenn es um die Bewältigung des Brexits geht, wenn es darum geht, wichtige Akzente in der Außen- und Sicherheitspolitik zu setzen, dann ist das ein guter Kompass.

Eine letzte Bemerkung sei mir noch gestattet im Hinblick auf Europa. Wir sollten ganze Regionen auch wieder stärker beachten. Das gilt insbesondere für Südosteuropa und die Balkanregion. Jetzt sind die Amerikaner mehr und mehr – man muss schon fast sagen – im Regiestuhl. Man darf daran erinnern, dass Herr Thaci sozusagen schon in der Maschine nach Washington saß, die dann aber wieder umdrehte, nachdem eine Anklage gegen ihn eröffnet wurde. Das zeigt, dass wir als Europäische Union wieder mehr in den Driving Seat zurückmüssen, dass wir wieder zum handelnden Akteur werden müssen. Denn der Balkan ist eine Region, die wir stabilisieren müssen; wir sind auch eine Stabilitätsunion.

(Johannes Schraps [SPD]: Richtig!)

Denn nur Stabilität gibt Sicherheit in Europa, und daran haben wir ein großes Interesse.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP])