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Dr. Heribert Hirte: Die Richtlinie verstößt nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip; sie verwirklicht es

Rede zum Schutz von Hinweisgebern auf EU-Ebene

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten hier über den Antrag der AfD-Fraktion, nach Artikel 263 AEUV und Artikel 23 unseres Grundgesetzes eine Subsidiaritätsklage gegen die am 26. November 2019 – Sie haben die Frist richtig erwähnt – im Amtsblatt der EU veröffentlichte sogenannte Whistleblower-Richtlinie zu erheben.

Die Frage, ob ein Akt der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsgebot verstößt, ist zunächst einmal richtig; denn es entspricht unserem Staatsverständnis, dass eine höhere Ebene erst und nur dann tätig werden soll und kann, wenn die tiefere, bürgernähere das nicht kann oder will. Ebenso entspricht dieser Gedanke auch unserem Menschenbild, dass der Staat erst dann handeln und eingreifen soll, wenn der Bürger die Probleme nicht selbst sinnvoll lösen kann.

Nach der Richtlinie – das ist hier der Hauptpunkt – sollen Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, keine Benachteiligungen durch ihren Arbeitgeber oder ihren Dienstherren befürchten müssen. Dabei steht im Mittelpunkt Ihrer Kritik, dass die Richtlinie auch die Verwaltung der Mitgliedstaaten und damit auch die deutsche Verwaltung adressiert, die bei uns in erster Linie in der Hand der Länder liegt.

Sie rügen mit Ihrem Antrag das Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage, einen Verstoß gegen den Subsidiaritätsgrundsatz und die Unverhältnismäßigkeit. Meines Erachtens treffen alle diese drei Gesichtspunkte nicht zu.

Was zunächst das Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage angeht, rügen Sie unter anderem eine Überschreitung der Binnenmarktkompetenz aus Artikel 114 AEUV, auf die die Richtlinie unter anderem gestützt wird. Nach Artikel 114 AEUV darf die Europäische Union „Maßnahmen“ treffen „zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben“. Daran fehle es hier. Die Richtlinie habe „nichts mit dem Funktionieren oder gar der Errichtung des Binnenmarktes zu tun“. Es gehe nur „um den Schutz der Arbeitnehmer und Bediensteten, die auf Verstöße gegen das Unionsrecht ... hinweisen“.

Dazu kann ich nur sagen: Ja, darum geht es. Es ist richtig. Und es betrifft das Funktionieren des Binnenmarktes, und zwar ganz zentral.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Jürgen Martens [FDP])

Denn seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir hinsichtlich der Rechtsangleichung in der Europäischen Union durchaus nicht selten mit der Lage konfrontiert sind, dass Mitgliedstaaten europäisches Recht zwar umsetzen, aber nicht anwenden. Auch wir selbst – das gebe ich unumwunden zu – sind hier manchmal in Versuchung geraten.

Im Bereich des Beihilferechts – das spielt gerade hier eine große Rolle – wissen wir ebenso, dass mit den europäischen Geldern und damit auch mit unseren Geldern nicht immer sauber umgegangen wird. Deshalb ist es richtig und wichtig, hier genauer hinzuschauen. Die hierfür aus Ihrer Sicht notwendigen, aber angeblich nicht gelieferten Beispiele nennen doch gerade Sie immer, wenn es darum geht, dass die Europäische Union angeblich Mittel verschwendet, Mittel, die wir ihr zur Verfügung gestellt haben. Gerade in diesem finanziellen Bereich muss genauer hingeschaut werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Traurig ist in diesem Zusammenhang – deshalb ist es gut, Frau Miazga, dass Sie das erwähnen –, dass es gerade das Vereinigte Königreich war, das hier eine Vorreiterrolle einnahm, indem es europäisches Recht nicht nur kodifizierte, sondern auch korrekt anwandte. Deutlicher als durch diesen Punkt kann eigentlich nicht aufgezeigt werden, dass das Funktionieren des Binnenmarktes eben nicht nur von den Regeln auf dem Papier, sondern auch vom gemeinsam gelebten und praktizierten Recht abhängt, was die Briten trotz eigener Compliance manchmal bei anderen vermisst haben. Zu Recht hat die Europäische Kommission deshalb schon vor längerer Zeit den tatsächlichen Vollzug europäischen Rechts und dessen Kontrolle zu einer ihrer Prioritäten gemacht. Genau hier setzt die Whistleblower-Richtlinie an.

Die Stärkung des Normvollzugs ist auch deshalb richtig, weil die – in Ihren Worten – Überwachung der Anwendung des Unionrechts eine der Voraussetzungen ist, um überhaupt Recht zu schaffen. Solange altes Recht nicht angewandt wird, ist es richtig, dass wir kein neues Recht schaffen. Deshalb: Die Richtlinie verstößt nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip; sie verwirklicht es, und das ganz zentral.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dass es dabei nicht, wie Sie gerade gesagt haben, um Überwachung des Normvollzugs durch die EU-Kommission geht, hat die Kommission gerade gegenüber der Bayerischen Staatsregierung und dem Bundesrat klargestellt. Es geht immer noch um interne deutsche Meldewege. Diese innerdeutsche Überwachung des Normvollzugs steht dabei Seite an Seite mit den Regeln des Artikels 267 AEUV, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, nach dem ein Gericht eine Vorentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof einholen kann. Niemand käme auf die Idee, dass das gegen unsere eigene Rechtsprechungskompetenz verstößt. Nein, wir brauchen die gleiche Auslegung des Rechts; wir brauchen die gleiche Anwendung des Rechts. Darum geht es hier.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

 

Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU):

Nein. – Sie meinen weiter, dass die Richtlinie in unsere Organisationsautonomie bei der Verwaltung eingreift. Entschiedener Widerspruch: Das, was hier gemacht wird, das sind Richtlinien, das sind Vorschläge, die neutral sind. Sie greifen genauso wenig in den Vollzug der Verwaltung ein wie Bauvorschriften, die den Bundestag zwingen, Brandschutzvorschriften zu erlassen. Ich halte das Argument für völlig fernliegend.

Was den von Ihnen gerügten Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip angeht – die Fragmentierung der Normgebung durch die EU-Richtlinie –: Ja, genau dieser Punkt treibt uns um – dass das Melden, sozusagen das Aufdecken von Verstößen gegen europäisches Recht in manchen anderen Ländern nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen. Das kann und muss angeglichen werden. Insofern liegt auch in diesem Punkt kein Verstoß vor.

Wir werden Ihren Antrag ablehnen, und das mit großer Überzeugung.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Mit großer Freude!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)