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Dr. Andreas Nick: Die freie Meinungsäußerung ist Kernbestandteil einer freiheitlichen Demokratie

Erosion des Rechtsstaats in der Türkei stoppen

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Jahren zweifellos eine immer weiter gehende Zuspitzung der innenpolitischen Situation in der Türkei erleben müssen: von den Gezi-Park-Protesten 2013, den Wahlen 2015 und dem Wiederaufflammen des Konflikts mit der PKK über den Putschversuch im Juli 2016 und den nachfolgenden Ausnahmezustand bis zum Referendum über die Verfassungsänderung und zu den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentenwahlen 2018. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich die Türkei dabei zunehmend in Richtung eines autoritären Regierungs- und Staatsmodells entwickelt hat.

(Zuruf von der LINKEN)

Zahlreiche Aspekte dieser Entwicklung haben wir hier und an anderer Stelle immer wieder in aller Deutlichkeit kritisiert: die Inhaftierungen von Parlamentariern und Journalisten, die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit ebenso wie die Entlassung von über 100 000 Staatsbediensteten – Verwaltungsbeamte, Richter, Soldaten, Lehrer und Professoren.

Bei einem Besuch in Ankara Ende 2016 habe ich selbst miterleben müssen, dass es bereits im Vorfeld zu Verhaftungen von Redakteuren der Zeitung „Cumhuriyet“ kam und eine vorgesehene Gesprächspartnerin, die damalige Co-Vorsitzende der HDP, Frau Yüksekdag, in der Nacht vor unserem Termin verhaftet wurde.

Die am 7. September erfolgten Verurteilungen des früheren Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas, und des früheren HDP-Abgeordneten Önder zu mehreren Jahren Haft für Aussagen, die sie im Jahr 2013 getroffen haben, sind besonders problematisch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in aller Klarheit: Parlamentarier gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis!

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die freie Meinungsäußerung von Abgeordneten und Journalisten ist Kernbestandteil einer freiheitlichen Demokratie und muss uneingeschränkt geschützt werden.

Auch die teils willkürlichen Verhaftungen deutscher Staatsbürger in der Türkei haben die bilateralen Beziehungen schwer belastet. Noch immer sind deutsche Staatsbürger aus offenbar politischen Gründen in der Türkei in Haft.

Wir begrüßen aber ausdrücklich die erfolgreichen Bemühungen der Bundesregierung, die, wie in den Fällen Yücel und Steudtner, zur Freilassung deutscher Staatsbürger beigetragen haben, auch durch rechtsstaatliche Entscheidungen türkischer Gerichte. Ebenso begrüßen wir die kürzlich erfolgte Freilassung von Taner Kilic, des Ehrenvorsitzenden von Amnesty International in der Türkei.

Das Referendum zur Verfassungsänderung und die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen markieren einen Einschnitt in der Entwicklung der Türkei. Die hohe Wahlbeteiligung von 88 Prozent und die Vielfalt der angetretenen Parteien verdeutlichen die Wertschätzung für die pluralistische Demokratie in der türkischen Bevölkerung. Diese bedarf aber eines festen Fundaments durch die uneingeschränkte Ausübung von Grundrechten und die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit.

Auch wenn die Wahlen unter den Bedingungen des Ausnahmezustands mit kurzer Vorlauffrist sowie einer einseitigen medialen Berichterstattung zum Wahlkampf stattfanden, werden die Ergebnisse auch von der Opposition in der Türkei akzeptiert. Diese Realität muss auch unsere Außenpolitik zur Kenntnis nehmen; denn die Türkei bleibt für uns auch künftig ein wichtiger Partner.

Wir stehen deshalb im Umgang mit der Türkei auf absehbare Zeit vor der Herausforderung einer schwierigen Doppelstrategie: auf der einen Seite klar und deutlich Stellung zu beziehen im Hinblick auf grundlegende Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Menschenrechte, auf der anderen Seite aber gerade deshalb die Türkei und ihre Menschen nicht aufzugeben, sondern dort, wo es machbar und notwendig ist, Dialog und Zusammenarbeit fortzusetzen, vor allem mit Blick auf die türkische Zivilgesellschaft.

Eine zentrale Plattform zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit ist der Europarat, in dem die Türkei fast von Beginn an Mitglied ist. Gerade der Europarat verfügt über geeignete Instrumente, um bei den zentralen Fragen des Schutzes der Menschenrechte, der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der pluralistischen Demokratie Einfluss auf die Türkei auszuüben.

So hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats 2017 das sogenannte Monitoringverfahren bezüglich der Türkei neu eingeleitet. Dabei überwacht ein Ausschuss kontinuierlich die Einhaltung der Verpflichtungen, welche die Türkei als faktisches Gründungsmitglied des Europarats eingegangen ist.

Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind ein zentraler Bezugspunkt für die Sicherung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Die Unabhängigkeit des obersten Verfassungsgerichts der Türkei muss auch in Zukunft sichergestellt sein, und seine Urteile müssen auf allen Ebenen der türkischen Justiz anerkannt und umgesetzt werden.

Auf Empfehlung des Europarates wurde in der Türkei eine staatliche Kommission eingerichtet, die entlassenen Staatsbediensteten erstmals ein Rechtsmittel eröffnet, ihre Entlassung überprüfen zu lassen, auch wenn dort erst wenige Fälle entschieden worden sind.

Wir begrüßen die Aufhebung des Ausnahmezustands in der Türkei als ersten wichtigen Schritt. Allerdings bleiben durch das Sicherheitsgesetz vom 25. Juni zahlreiche Maßnahmen weiterhin in Kraft. Das muss ebenso wie die Herausforderungen, die sich durch das neue Präsidialsystem ergeben, Thema bleiben. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, wie sich die Türkei künftig zu Empfehlungen der Venedig-Kommission des Europarates verhält.

Meine Damen und Herren, die innere Verfasstheit der Türkei darf nicht weiter in einen Gegensatz zu ihren eigenen strategischen Interessen geraten. Dazu gehören zweifelsohne gute Beziehungen mit dem Westen – politisch wie wirtschaftlich.

Wir in Deutschland haben unsererseits weiterhin ein vitales Interesse an einer prosperierenden Türkei mit einer stabilen Demokratie und einer lebendigen Zivilgesellschaft, mit einer starken Orientierung nach Westen und Anbindung an Europa. Dies gilt nicht zuletzt angesichts von mehr als 3 Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in unserem Land zu Hause sind.

Es gilt daher, die Beziehungen zwischen Deutschland, der EU und der Türkei in einem veränderten Umfeld neu zu vermessen. Dazu bedarf es des Dialogs, und dazu trägt auch die Einladung des Bundespräsidenten an Präsident Erdogan bei.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)