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Frank Heinrich: Die Krise legt Schwächen offen

Rede zur weltweiten humanitäten Lage in der Corona-Krise

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte doch noch zu Herrn Maas und zu seiner Rede zurückkehren, was ja unser Thema heute Morgen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte ein Bild gebrauchen, und das kleine Glas vor mir bietet mir die Gelegenheit, das vor Augen zu führen. Sie alle kennen die Situation: Man ist auf einer Party, man ist in einer Gesellschaft, und während man gerade trinkt oder irgendein Gefäß in der Hand hat, wird man angerempelt, unabsichtlich, und dann schwappt das so rüber.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

– Das Redenpult ist jetzt schon öfter geputzt worden. – Dann kommt natürlich kurz die Frage: Wer ist daran schuld, wenn ich jemanden bekleckert habe? Das ist natürlich der Rempler. Aber eigentlich ist die Frage – und das war das Bild –: Was ist denn verschüttet worden? Was ist die Auswirkung? Was war vorher in unserem Glas drin? Die Coronakrise bringt das uns allen vor Augen, auch sichtbar durch die Rede, die wir gerade gehört haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Was steckt in uns, in unseren Gesellschaften? Sind das Misstrauen, Angst, Unsicherheit und Ähnliches, oder sind das Solidarität, Güte, Hinschauen, Dankbarkeit und Freizügigkeit? Das kommt dann über uns hinaus und schwappt in die Welt, in unserem Alltag, einzeln oder darüber hinaus.

(Zuruf von der AfD: Amen!)

Corona hat uns, die ganze Welt, angerempelt. Diktaturen, Autokratien und Demokratien, wir alle versuchen, das Gleichgewicht wieder hinzukriegen. Es zeigt sich noch stärker als zuvor, welche Werte uns tatsächlich wichtig sind.

Ein solcher Schluck, eine solche Auswirkung ist auch, dass wir heute so zentral diese Debatte führen: eine Debatte zu den Auswirkungen dieser Krise auf die humanitäre Situation und – dazu war die Medienwand zu kurz – auch die weltweite Lage der Menschenrechte unter dieser Situation. Denn die Krise führt schmerzhaft vor Augen, was da vorher wirklich drin war an Ungerechtigkeiten und Schwächen, möglicherweise aber auch Stärken. Deshalb möchte ich zuerst kurz nach Deutschland zurückkehren. Ja, wir haben die letzte Woche, gestern und heute ganz viele Nachrichten bekommen – das war teilweise nicht immer die netteste mitteleuropäische Art –; Aufforderungen, wie wir abstimmen sollen. Manchmal kamen solche Nachrichten alle sechs Minuten. Dennoch ist es genial, dass das in unserem Land passieren darf. Hier darf jeder seine Meinung frei äußern. Hier dürfen wir dankbar sein. Das ist unsere Stärke und unsere Genetik.

Auch das schwappt in unser Land: Es gibt Demonstrationen mit Sicherheitsabständen; Gerichte, die rechtsstaatlich auf Maßnahmen eingehen, die vielleicht ein Stück übertreten wurden, und dann werden wir zurückgepfiffen. Da gibt es kritische Medienberichterstattung. Sie ist nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht.

Heute soll es um zwei Bereiche gehen: zum einen um die weltweiten humanitären Folgen; dazu hat der Minister gerade sehr deutliche Zahlen für die verschiedenen Bereiche genannt. Zum anderen geht es um die menschenrechtliche Situation durch den Missbrauch dieser Lage durch autokratische Regierungen. Man könnte auch sagen: Diese Krise misst uns den Puls.

Die erste Erkenntnis ist: Die Ärmsten werden am stärksten betroffen. Uns schwappt Ungerechtigkeit entgegen. Diejenigen, die vorher schon am Rand standen, für die das Leben bereits vorher hart war, bekommen die Folgen am allerstärksten zu spüren. Beispiel: In den USA trifft Corona die Afroamerikaner und Latinos wesentlich häufiger und stärker als die weiße Bevölkerung: wegen der fehlenden Krankenversicherung, wegen Vorerkrankungen durch schlechte Ernährung oder Niedriglohnjobs.

Beispiel Simbabwe. Das Land befindet sich seit einigen Wochen im Lockdown, durchgesetzt vom Militär. Menschenrechtsorganisationen prangern das sehr brutale Vorgehen der Polizei an. Das ist nicht das einzige Land, das man hier nennen könnte. Die Krise trifft mit voller Wucht die Schwächsten und Ärmsten. Menschen, die keine Stimme haben, haben weltweit am stärksten zu kämpfen. Ich bin froh, dass wir hier dieses Thema heute extrovertiert laut in den Mittelpunkt stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Höchst bedenklich in Zeiten von Covid-19 ist die menschenrechtlich schwierige Lage und die humanitäre Situation von armen und benachteiligten Kindern, insbesondere in Kriegsgebieten, Flüchtlingslagern oder auf der Straße. Besonders gefährdete Personen sind allerdings schon jetzt Minderheiten in Gesellschaften, wie zum Beispiel die Roma in Europa; Gruppen und Personen am Rande der Gesellschaft.

Unsere Reaktion – ich habe am Anfang meine Dankbarkeit ausgedrückt – zeigt sich sowohl durch Solidarität innerhalb unseres Landes als auch durch die Zusage einer weiteren Investition in die humanitäre Hilfe und die Zusage, Hilfsorganisationen in der Logistik zu unterstützen, beim World Food Programme. Auch die EU hat jetzt entsprechend reagiert; denn die Lage der Menschen am Rand der Welt birgt das Risiko, dass die Hilfe sie nicht erreichen kann, weil die Wege zu ihnen abgeschnitten sind. Die Zahlen, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind atemberaubend. Wenn keine Hilfe kommt, dann ist es nicht Corona, sondern der Hunger, der diese Menschen umbringt.

Die zweite Erkenntnis der Pulsmessung ist: Strukturelle Tendenzen werden verstärkt. Die Krise legt Schwächen offen. Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte sind die Voraussetzung für diese bei uns stolze Demokratie. In der Coronazeit sehen wir eine steigende Tendenz in der Einschränkung von Menschenrechten. Einige Regierungen nutzen die Pandemie, um Rechtsstaatlichkeit zu untergraben, Menschen zu diskriminieren oder Berichte zu zensieren, zu unterdrücken. Wir haben gerade einige Beispiele gehört. Ich habe von der Polizeigewalt in mehreren Staaten gesprochen: Uganda, Südafrika, Simbabwe und Indien. Da ist aber auch Ungarn – das ist gerade genannt worden –: Gerichte bekommen Kompetenzen abgesprochen, Journalisten sowieso. In Polen soll das Wahlrecht geändert werden.

Da zeigen sich Schwächen beim Schutz von Menschenrechten, etwa mit Blick auf die gerade genannten Roma in Europa. Journalisten werden unter Druck gesetzt. Protestbewegungen in einigen Ländern – uns fällt da immer zuerst China ein – werden brutal unterdrückt. Die, die am Anfang darüber berichtet haben, dass es möglicherweise einen neuen Virus gibt, sind inzwischen gestorben worden, nicht nur an Corona. Das alles sind schwerste Verstöße gegen die Grundsätze von Menschlichkeit und Menschenrechten.

Der „Schutz von Menschenrechten“, sagt Markus Beeko von Amnesty International in Deutschland, ist „in Zeiten der Krise“ wie der globalen Pandemie von ganz „besonderer Bedeutung“. Die menschenrechtliche Lage in autokratischen Systemen ist heute höchst bedenklich. Offensichtlich zeigen sie jetzt gerade ihr wahres Gesicht. Was vorher schon im Glas war, schwappt nun raus und wird für alle sichtbar. Das wird in der Türkei deutlich; ich bin der Bundesregierung dankbar, dass das angesprochen wurde. Da werden Tausende Häftlinge wegen des Coronavirus entlassen, aber politische Gefangene müssen im Gefängnis bleiben.

Was machen wir nach der Pulsmessung mit dem Ergebnis? Was wollen wir denn, dass aus uns rausschwappt? Wenn uns Menschenrechte und die Würde des Menschen wirklich wichtig sind, dann müssen wir jetzt laut werden. „Charakter zeigt sich in der Krise“: Das hat Ihr Parteikollege und unser Kanzler Helmut Schmidt gesagt. Was also wollen wir tun? Ich denke daran, den Europarat als Hüter von Menschenrechten zu stärken, wenn wir ab November den Vorsitz im Ministerkomitee übernehmen werden. Ähnliches können wir ab Juli im Rahmen der Ratspräsidentschaft tun. Hinsichtlich unserer Verantwortung in der UN wurde gerade gesagt: hinsehen, hinhören, ansprechen. Ja, da sind wir besser geworden. Aber das müssen wir weiter tun.

So oft reden wir unser System schlechter – Sie haben das übrigens gerade auch getan –, als es wirklich ist. Im Wettbewerb darf es nicht mehr nur um Marktmacht und Dollarzeichen gehen. Viel offensiver müssen wir Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen – in unserem Land, aber auch weit darüber hinaus.

Unsere Genetik – damit komme ich zum Schluss – schätzen lernen, sie sichtbarer machen und dann gerne auch nach außen tragen, rausschwappen lassen, nicht nur in Form von Geld, sondern manchmal auch mit Wirtschaftsthemen. Eine Krise ist oft eine Chance, neu auszubalancieren, was uns wirklich wichtig ist – gerne auch dauerhaft und mit Konsequenzen, vielleicht sogar schmerzhafte, manchmal mit klarerer Prioritätensetzung, was das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ angeht.

Ich danke Ihnen für diese Möglichkeit, hier heute zu dem Thema zu einer so zentralen Zeit zu sprechen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)