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Dr. Carsten Brodesser: Steigende Steuerbelastungen ohne realen Einkommenszuwachs sind ungerecht

Abschaffung der heimlichen Steuererhöhungen ("kalte Progression") bei der Einkommensteuer

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil es meine erste Rede in diesem Hohen Hause ist, erlauben Sie mir vorab vielleicht ein paar grundsätzliche Worte. Ich schließe mich da, glaube ich, dem einen oder anderen Vorredner an.

Seit Mitte letzter Woche ist uns bekannt, dass die AfD-Fraktion den Tagesordnungspunkt zur Abschaffung der kalten Progression in der heutigen Plenardebatte behandeln möchte und einen entsprechenden Antrag zur Abstimmung gestellt hat. Vor gerade einmal 24 Stunden erreichte uns nun dieser Antrag. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass wir im Vorfeld mehr Zeit bekommen hätten, um uns mit Ihrem Antrag zu beschäftigen. Doch obwohl Sie mehr als eine ganze Woche Zeit zur Vorbereitung Ihres Antrags hatten, beschäftigen wir uns heute lediglich mit einem politischen Mythos.

Charakteristisch für einen politischen Mythos ist es, dass das Erzählte entgegen den empirisch nachprüfbaren Tatsachen interpretiert wird. Damit wir uns richtig verstehen: Die kalte Progression ist eine Realität in unserem Steuersystem. Jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, dass es bei steigenden Einkommen im Rahmen des progressiven Tarifs auch zu steigenden Steuersätzen kommen kann. Das betrifft gerade die Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen. Insbesondere diese Einkommensgruppen haben den Eindruck, dass von einer Bruttolohnerhöhung nur wenig im Portemonnaie übrig bleibt.

Richtig ist auch, dass unser Steuersystem auf dem Leistungsfähigkeitsprinzip basiert. Bezieher höherer Einkommen sollen höhere Lasten tragen als jene, die weniger verdienen, sowohl absolut als auch relativ. Wenn aber eine Lohnerhöhung durch die allgemeine Preissteigerung aufgezehrt wird und es gleichzeitig aufgrund des progressiven Steuertarifs zu einer höheren Besteuerung kommt, dann spricht man von einer kalten Progression; das hat der eine oder andere Vorredner ja bereits ausgeführt. Damit wir uns auch an dieser Stelle richtig verstehen: Steigende Steuerbelastungen ohne realen Einkommenszuwachs sind ungerecht. Dieses Geld muss an den Steuerzahler zurückgegeben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Bei der Rolle des Gesetzgebers und der Rolle der Bundesregierung sind wir uns leider nicht einig, und da rutschen Sie leider auch auf ein finanzpolitisches Stammtischniveau ab. Sie zeichnen mit Ihren Ausführungen das Bild des gierigen Staates, der still und heimlich die Steuern erhöht und gerade dem Otto Normalverdiener das Geld aus der Tasche ziehen will.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das Gegenteil ist der Fall.

Erstens. Entsprechend dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 2. Juni 1995 legt die Bundesregierung alle zwei Jahre einen Bericht über die Höhe des von der Einkommensteuer zu befreienden Existenzminimums vor.

Zweitens. Am 29. März 2012 hat der Deutsche Bundestag zudem die Bundesregierung beauftragt, alle zwei Jahre einen Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifes vorzulegen.

Beide Maßnahmen zusammen erlauben es dem Parlament – uns –, den notwendigen Umfang von Steuertarifänderungen und Änderungen bei den Freibeträgen zu bestimmen. Das ist gut so, und so steht es auch im Koalitionsvertrag.

Die Ergebnisse dieser Vorgehensweise sind eindeutig und für Sie vielleicht verblüffend. Doch ein lediger Durchschnittsverdiener mit Steuerklasse I hätte im Jahre 2015 gemäß der kalten Progression ohne Korrektur des Gesetzgebers eine steuerliche Mehrbelastung von lediglich 18,86 Euro im Jahr oder 1,57 Euro im Monat zu schultern gehabt. Die entsprechende Anpassung des Steuertarifes für 2015 – darüber ist auch schon gesprochen worden – sowie die Erhöhung des Grundfreibetrages und weiterer pauschaler Abzüge führten jedoch tatsächlich zu einer Minderbelastung dieses steuerpflichtigen Bürgers von rund 50 Euro. Dieses Ergebnis wurde im Übrigen nicht nur beim ledigen Durchschnittsverdiener, sondern bei allen anderen Einkommensklassen und Familienkonstellationen erzielt.

Der Bürger interessiert sich weniger für den gültigen Einkommensteuertarif und die jeweiligen Freibeträge, sondern viel mehr für das, was in sein Portemonnaie fließt. Sie als AfD-Fraktion sollten sich aber dafür interessieren, dass wir mit dem Alterseinkünftegesetz und dem Bürgerentlastungsgesetz die steuerliche Anerkennung von Renten- und Krankenversicherungsbeiträgen deutlich verbessert haben. Und: Sie sollten bei dieser Diskussion auch nicht vergessen, dass wir in den letzten Jahren kontinuierlich das Kindergeld angehoben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass es in der Vergangenheit lediglich zum teilweisen Ausgleich der kalten Progression gekommen sei. Das ist schlicht und einfach die Leugnung der Tatsachen. Die von mir beschriebenen umfangreichen Maßnahmen – Tarif- und Freibetragsanpassung, Erhöhung von Pauschalen sowie Kindergeld – haben nicht nur in den letzten Jahren, sondern bereits davor mindestens zu einem vollständigen Ausgleich der kalten Progression und sogar zur steuerlichen Ent lastung beigetragen. – So viel zum ersten Teil Ihres steuerpolitischen Mythos.

Die AfD-Fraktion führt in ihrem Antrag ferner aus, dass eine mehr oder minder automatische Anpassung des Steuertarifes erfolgen soll – Steuertarif auf Rädern. Ich interpretiere Ihren Antrag so, dass Sie die bisher bewährte Politik der Entlastung aller Bürgerinnen und Bürger durch Parlamentsentscheidungen ablehnen und für eine Indexierung der Steuertarife wie in anderen OECD-Ländern plädieren. Aber dieser von Ihnen geforderte automatische Abbau einer kalten Progression wurde in diesem Parlament bisher immer abgelehnt. Es gibt – wie bereits zum ersten Teil Ihres Mythos ausgeführt – gute Gründe, diesen Automatismus auch weiterhin abzulehnen. Wie bereits dargelegt, haben die wiederkehrenden parlamentarischen Verfahren zur stärkeren Entlastung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes geführt. Hätten wir den von Ihnen geforderten Automatismus eingeführt, dann hätten tatsächlich 50 Millionen Einkommensteuerpflichtige weniger Geld in der Tasche.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Auch künftig werden wir als Parlament aufgrund der tatsächlichen Entwicklung und unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren die Steuersätze und Freibeträge anpassen und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes entlasten. Nicht ein anonymer Computeralgorithmus, sondern die gewählten Volksvertreter dieses Hauses sollten auch weiterhin darüber entscheiden, wer neben dem vollständigen Ausgleich der kalten Progression eine zusätzliche Entlastung erfahren sollte.

Sie als AfD erwecken mit Ihrem Antrag den Eindruck, es gäbe Freibier für alle. In Wahrheit müssten die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ihren Deckel selbst bezahlen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)