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Antje Tillmann: "Die Digitalisierungskatastrophe in den Schulen liegt nicht am Geld"

Abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Verfassung ist ein wertvolles, hohes Gut. Es hat einen Grund, dass es, um sie zu ändern, einer Zweidrittelmehrheit sowohl hier im Bundestag als auch im Bundesrat bedarf. Jeder, der eine Verfassungsänderung diskutiert, achtet sehr genau auf die Worte, die er nutzt. So war es auch 2009. Mit einem Vorlauf von zehn Jahren, nach FöKo I und FöKo II, und wahrscheinlich noch sehr viel länger, haben wir überlegt, wie wir es schaffen, den künftigen Generationen nicht den enormen Schuldenberg zu hinterlassen, der sich zu dem Zeitpunkt schon angesammelt hatte. Zehn Jahre haben wir diskutiert, bevor es zu dieser Formulierung im Grundgesetz gekommen ist. Und die Schuldenbremse in der Form, wie sie formuliert wurde, hat sich bewährt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das muss man heute ganz klar sagen. Nicht nur der grundsätzlich ausgeglichene Haushalt hat sich bewährt, sondern auch der Spielraum in Notsituationen.

Wir haben trotz Schuldenbremse Investitionen auf Rekordniveau. Wir haben die Verschuldung 2010 von über 80 Prozent auf unter 60 Prozent 2019 reduziert. Wir alle wissen, dass wir in jedem Ausschuss Diskussionen über zusätzliche Maßnahmen, die wir uns gewünscht hätten, geführt haben. Sie sind häufig aber nicht auf den Weg gebracht worden, weil wir gesagt haben: Die Schuldenbremse lässt das nicht zu. – Es ist also absolut klar, dass wir 2020 die enormen Förderprogramme nicht auf den Weg hätten bringen können, wenn wir das Geld vorher schon ausgegeben hätten. Deshalb noch mal: Die Schuldenbremse hat sich hinsichtlich des ausgeglichenen Haushalts und auch hinsichtlich der Notlagensituation bewährt.

Wir waren nicht naiv. Wir haben 2009 eine Schuldenbremse haben wollen, die bei der ersten Krise nicht schon wieder ausgesetzt wird. Deshalb haben wir auch sehr lange über diesen zweiten Satz diskutiert: „Im Falle von Naturkatastrophen oder anderen außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen …“ dürfen zusätzliche Schulden aufgenommen werden. Dieser Satz hat sich bewährt; und ich danke Frau Hajduk, die das aus Oppositionssicht dargestellt hat. Genau weil es diesen Satz gibt, können wir die derzeitigen Hilfsprogramme auf den Weg bringen.

Ich bin einigermaßen verwundert über den Antrag der AfD; denn damals haben über diesen Satz über 100 Wissenschaftler diskutiert. Keiner ist auf die Auslegung gekommen, die Sie sich ausgedacht haben. Niemand hat verlangt, dass der Staat erst mal die Kontrolle über eine Situation verlieren muss, damit entsprechende Möglichkeiten in Anspruch genommen werden können.

(Peter Boehringer [AfD]: Das steht im Grundgesetz! Das steht wörtlich im Grundgesetz!)

Darum ging es doch gar nicht. Es geht doch nicht um staatlichen Kontrollverlust. Das wäre doch absolut verantwortungslos gewesen. Es ging darum, dass die Ursache der Notsituation nicht der staatlichen Kontrolle unterlag, dass die Situation nicht durch falsches staatliches Handeln verursacht wurde. Ich kann mich an keinen erinnern, der damals gesagt hat: Erst müssen wir komplett im Keller sein, und dann dürfen wir Nothilfen aufbauen.

(Siegbert Droese [AfD]: Gucken Sie ins Grundgesetz!)

Das wäre auch völlig bescheuert gewesen. Und seien Sie gewiss: Ich und auch Frau Hajduk, glaube ich, hätten eine solche Auslegung damals für völlig absurd gehalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Zurufe von der AfD)

Nach dem, was Sie behaupten, hätten wir keine Vorsorge treffen dürfen. Wir hätten also warten müssen, bis alle Menschen erkrankt sind; denn erst das wäre ja der staatliche Kontrollverlust gewesen. Wir hätten kein Geld für die Erforschung von Impfstoffen geben dürfen, weil das ja auch noch staatliche Kontrolle ist. Sie schreiben sogar süffisant, dass Hilfen für Unternehmen erst dann der Schuldenbremse, wie Sie sie auslegen, gerecht geworden wären, wenn die Unternehmen geschlossen worden wären, weil keiner mehr hinkommen kann, weil er erkrankt ist. – Das ist so was von absurd, dass ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, wie man eine solche Auslegung hier in einem Antrag vorlegen kann.

Das war nicht gewollt. Wir wollten, dass der Staat die Kontrolle behält, und wir wollten, dass die Notsituation an sich nicht durch staatliches Handeln verursacht ist. Und seien Sie gewiss – ich denke diejenigen, die damals dabei waren, werden das genauso sehen –: Wenn wir diese Situation heute erahnt hätten, hätten wir dieses Virus als eine Notlagensituation mit in die Verfassung geschrieben. Wir haben damals nicht gedacht, dass es so etwas geben könnte, aber ganz sicher war das genau der Grund für diese Ausnahmesituation.

Aber nicht nur, dass Sie eine interessante Auslegung der Verfassung hier vorlegen: Sie gehen ja noch weiter. Sie weisen die Schuld an dieser Situation gar nicht mehr der Politik zu. Sie sagen: Die staatliche Kontrolle habt ihr ja. – Da könnten wir jetzt Luft holen. – Sie sagen also: Staatlicher Kontrollverlust liegt nicht vor. – Aber Sie entblöden sich nicht, folgenden Satz zu schreiben – ich muss ihn mit Erlaubnis des Präsidenten hier vorlesen, weil er wirklich atemberaubend ist –:

Es ist der unverbrüchliche Regelgehorsam der übergroßen Mehrheit der Bürger, der der Wirtschaft den Umsatz und dem Staat die Steuereinnahmen geraubt hat …

Das ist unsäglich. Sie sagen der Mutter, die Angst um ihr Kind hat, weswegen sie sich mit Maske und möglichst wenig in der Öffentlichkeit bewegt: Du raubst dem Staat Steuereinnahmen; du bist verantwortlich für diese finanzielle Situation. – Sie sagen dem Einzelhändler, der um seine Existenz kämpft, sich aber trotzdem an die Regeln hält: Du bist schuld, dass diese wirtschaftliche Situation entstanden ist. – Das ist so abgrundtief gemein, dass ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, wie man in einen Antrag einen solchen Satz hineinschreiben kann. Aber seien Sie gewiss, dass wir da nicht Ihrer Meinung sind!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Schuld an dieser Situation sind nicht die Politiker, ist nicht der Bürger, der sich an die Regeln hält – schuld an dieser Situation ist ein Virus, und dieses Virus wollen wir gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern bekämpfen. Deshalb ist so etwas absolut indiskutabel.

Dieser Ausnahmetatbestand der Schuldenbremse ist genau der, den wir damals im Auge gehabt haben. Indem wir ihn jetzt anwenden, gehen wir gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gegen diese Krise vor, und das tun wir, obwohl wir investieren, obwohl wir in den vergangenen Jahren Schulsanierungs-, Kindergartensanierungsprogramme auf den Weg gebracht haben. Auch die Digitalisierungskatastrophe in den Schulen liegt nicht am Geld; denn der Digitalisierungsfonds steht ja schon seit Jahren bereit. Das Geld ist da; es wird einfach nur nicht abgerufen.

Von daher noch einmal: Die Schuldenbremse hat sich bewährt. – Trotzdem, Frau Hajduk, kann ich mir vorstellen, dass wir nach dieser Akutsituation darüber sprechen, wie es in den Folgejahren weitergeht. Und natürlich kann es sein, dass wir dann zu dem Ergebnis kommen, an der einen oder anderen Stelle muss nachgeschärft werden. Der Kollege von der SPD hat ja eben schon gesagt: Es ist eigenartig, dass die Länder damals ausdrücklich selbst auf ihre Verschuldungsmöglichkeit verzichtet haben. Vielleicht würden sie das heute anders entscheiden. – Und es ist ihr Recht, das heute anders zu entscheiden.

Und: Ja, wir müssen gucken, was mit den Jahren nach der Akutsituation passiert – gerne! Die Diskussion wird auch Eckhardt Rehberg gerne mit uns gemeinsam führen. Das sollten wir tun, aber nicht unter dem Aspekt, die Schuldenbremse aufzuheben, sondern unter dem Aspekt, sie nachzuschärfen, damit die Unternehmerinnen und Unternehmer auch sicher sein können, bei einer der nächsten Krisen Hilfen aus staatlichen Mitteln zu bekommen, damit wir aus dieser Situation schnell wieder rauskommen und damit wir dann die Schuldenregelungen zumindest für den konsumtiven Bereich und für die normalen Investitionen auch möglichst bald wieder einhalten. Dazu fordere ich Sie auf.

Ich danke allen Bürgerinnen und Bürgern, die regelgehorsam – was die AfD offensichtlich als Beschimpfung empfindet – mit uns gemeinsam versuchen, gegen die Krise anzugehen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sonja Amalie Steffen [SPD])