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Ingmar Jung: Wenn die Grundrechte anderer berührt sind, wird abgewogen

Rede zur Erweiterung der Verwirkungsregelung des Artikel 18 des Grundgesetzes

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Brandner, auch wenn Sie schon erklärt haben, dass alle Reden nach Ihnen hetzerisch und aufgeregt sind,

(Stephan Brandner [AfD]: Befürchtet! Machen Sie eine Ausnahme!)

will ich versuchen, trotzdem die Ruhe zu bewahren. Aber man muss vielleicht mit dem einen oder anderen doch mal aufräumen, was Sie eben erklärt haben.

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Er hat gesagt: „hetzerisch und wahrheitswidrig“!)

– Ja, „wahrheitswidrig“ hat er auch gesagt. Das habe ich mir noch aufgehoben, aber das hätte ich jetzt auch sagen können.

Ich will mit ein paar Dingen aufräumen, die wir eben gehört haben. Die AfD macht das, was sie oft macht: Sie fängt mit einem Antrag an, der irgendwie ganz interessant klingt, und stellt dann hier Dinge so dar, wie sie einfach nicht sind. Sie haben gerade so getan, als könne man unter dem Deckmantel der Religionsausübungsfreiheit in Deutschland alles tun. Das ist aber einfach nicht richtig. Darin, dass Sie gesagt haben, dass man unter dem Deckmantel von Religionsausübungsfreiheit in Deutschland doch nicht zulassen kann, dass Straftaten begangen werden, dass gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgegangen wird, stimmen wir Ihnen vollkommen zu. Das geht aber auch heute nicht, weil Artikel 4 Grundgesetz nicht schrankenlos gilt. Vielmehr ist es so wie bei allen Grundrechten: Wenn die Grundrechte anderer berührt sind, wird abgewogen – praktische Konkordanz nennt man das bei Normenkollision –, und die Grundrechte werden nur so weit gewährt, wie andere nicht verletzt werden. Da gibt es immer eine Abwägung. Da dürfen keine Straftaten begangen werden. Das ist durch Artikel 18 auch nicht anders oder besser oder schlechter; daran ändert sich überhaupt nichts.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie, Herr Brandner, jetzt erklären – ich glaube, ich habe es mir richtig aufgeschrieben –, die Demokratie muss wehrhaft sein und deshalb brauchen wir eine Änderung, dann haben Sie mit Artikel 18 aber ein richtig scharfes Schwert gefunden. Das ist eine Norm, deren Entstehung sich überhaupt nur historisch erklären lässt. Sie haben jetzt von vier Fällen gesprochen, die es gab. Ja. Aber wissen Sie denn eigentlich auch, in wie vielen Fällen das Bundesverfassungsgericht eine Grundrechtsverwirkung tatsächlich ausgesprochen hat?

(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Null Fälle!)

Es sind exakt null. Was für ein scharfes Mittel zur Verteidigung der Demokratie Sie da gefunden haben! Und das wollen Sie jetzt hier mit einer kleinen Erweiterung zur Hand nehmen, um irgendwelche Straftaten, von denen Sie erzählen, zu verhindern. Das wird nicht funktionieren an dieser Stelle.

Ich kann Ihnen jetzt nicht alle Fälle runterbeten. Sie werden auch viele Fälle kennen, in denen gerade aufgrund dieser Abwägung die Religionsausübungsfreiheit natürlich nicht schrankenlos gewährt wird. Nehmen Sie als Beispiel die Rechtsreferendarin – das war eine Eil­entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem letzten Jahr –, der das Tragen des Kopftuches in der Sitzungsvertretung verboten wurde, weil das Recht auf Religionsausübung eben nicht schrankenlos ist, weil es eine Neutralitätspflicht des Staates gibt.

Herr Brandner, Sie sagen, es gehe gar nicht um eine bestimmte Religion, Sie meinten alle damit. Nehmen wir mal mein Lieblingsbeispiel, den Anhänger der Sikh-Religion – ich weiß nicht, ob Sie den Fall kennen –, der auf die Helmtragepflicht verzichten wollte. Tatsächlich hat sich am Ende die einfache Straßenverkehrs-Ordnung, § 21, gegen diesen uferlosen Artikel 4 Grundgesetz durchgesetzt. Man mag es kaum glauben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Stephan Brandner [AfD]: Es geht um den Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung!)

Die Normenkollisionen, die es überall gibt, werden gelöst. Sie haben aber ganz am Ende noch etwas anderes angesprochen. Sie wollen nämlich die Antragsberechtigung erweitern.

(Stephan Brandner [AfD]: Das war in der Mitte! Sind Sie eingeschlafen danach?)

– Herr Brandner, es könnte sein, dass ich eingeschlafen bin vorhin, aber ich war relativ wach, und für mich war es am Ende, zumindest am Ende der Redezeit. Vielleicht haben Sie etwas überzogen, sodass es Ihnen so vorkam, als sei es in der Mitte gewesen. Für mich war es am Ende.

Sie wollen Artikel 100 Grundgesetz ändern, dort einen neuen Absatz einfügen, dass jetzt jedes Gericht den Antrag ans Bundesverfassungsgericht stellen kann. Wie soll das denn eigentlich gehen, meine Damen und Herren?

(Stephan Brandner [AfD]: Das geht doch schon nach Artikel 100!)

Wir werden doch über eine Grundrechtsverwirkung nicht in einem Einzelfall reden wollen. Da müsste man wirklich wiederholt, nachhaltig und oft irgendwelche Grundrechte missbräuchlich genutzt haben, damit wir überhaupt von einer Verwirkung sprechen können. Wie soll das ein einzelnes Gericht, das immer einen einzelnen Sachverhalt zu beurteilen hat, eigentlich feststellen? Oder geht es Ihnen darum, dass es schon im ersten Fall passiert? Dann, muss ich sagen, sind wir in einem Bereich, in dem es für unsere Verfassung kritisch wird. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass ein Gericht in jedem Fall, in dem jemand verurteilt wird wegen einer Volksverhetzung, den Antrag stellen müsste, das Grundrecht auf allgemeine Meinungsäußerung zu verwirken.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ingmar Jung (CDU/CSU):

Ja, bitte.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Bitte schön.

Fabian Jacobi (AfD):

Herr Kollege Jung, Sie haben eingangs gesagt, dass alle nötigen Maßnahmen gegen einen Missbrauch der Religionsfreiheit auch nach der geltenden Rechtslage schon getroffen werden können; das sei alles völlig überflüssig, was wir hier beantragen. Stimmen Sie mir immerhin dahin gehend zu, dass das Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit in Artikel 4 Grundgesetz nach dem Wortlaut derzeit vorbehaltlos gewährleistet ist und dass deswegen im Einzelfall eine relativ komplizierte Abwägung anzustellen ist zwischen diesem Grundrecht und möglicherweise konfligierenden Grundrechten,

(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das lernt man im ersten Semester, die Verwirkung!)

dass diese Abwägung im Einzelfall auch einem effektiven Vorgehen gegen den Missbrauch durchaus entgegenstehen kann und dass durch eine Verwirkung des Grundrechts bezogen auf Einzelpersonen dieses Vorgehen gegen den Missbrauch deutlich erleichtert werden würde?

Danke.

Ingmar Jung (CDU/CSU):

Ich habe am Anfang nicht ausgeführt, dass für alle Probleme alles einfach ist. Das mag für Sie gerne so sein. Ich habe ausgeführt, dass genau diese Abwägung, wie Sie sie eben beschrieben haben, vorgenommen wird, dass wir keine schrankenlosen Grundrechte haben, auch wenn sie nach Wortlaut zunächst vorbehaltlos gewährt sein mögen. Wir haben immer die Abwägung, und in der Tat: Manchmal ist sie einfacher. Aber ich glaube, bei Grundrechten ist es die Mühe eben wert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen ist es so und bleibt auch so.

Ich will zu der Änderung zu Artikel 100, die Sie vorschlagen, abschließend noch ausführen: Wenn das ernst gemeint ist, dann müsste es ja im Einzelfall möglich sein, die Verwirkung zu beantragen, weil jemand einmal ein Grundrecht nach Meinung eines Gerichts unzulässig ausgeübt hat. Sie haben eben sogar gesagt, der Verdacht würde genügen. Also da, meine Damen und Herren, sind wir von einer verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit und einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer solchen Regelung weit entfernt.

Jetzt habe ich gedacht, darüber könnte ich mal was nachlesen in der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes, die die AfD in Auftrag gegeben hat. Aber ich habe festgestellt: Da steht nur was zu Artikel 18 Grundgesetz drin. Artikel 100 haben Sie offenbar vergessen – vielleicht weil Sie die Antwort nicht haben wollten.

Abschließend kann ich sagen: Bei so wenigen Anwendungsfällen und so geringen Auswirkungen, die der Artikel 18 hat, hätten wir darüber reden können, ob wir ihn überhaupt brauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Von mir aus hätten wir die Abschaffung beantragen können. Meine Damen und Herren, eine Ausweitung brauchen wir an der Stelle wirklich nicht. Und Sie sollten sich über Ihren Antrag auch noch mal Gedanken machen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)