Dr. Volker Ullrich: "Wir müssen der besorgniserregenden Entwicklung ins Auge sehen"
Aktuelle Stunde | Kurswechsel in der Corona-Politik
Frau Präsidentin! Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befinden uns immer noch inmitten einer Naturkatastrophe; die Coronapandemie ist eine solche. Mit dem Anstieg der Zahl der Neuinfektionen um 29 Prozent von letzter Woche auf diese Woche befinden wir uns in einem exponentiellen Wachstum, inmitten einer dritten Welle. 229 Tote waren gestern in Deutschland zu beklagen.
Ich verstehe, dass viele Menschen ermüdet und erschöpft sind. Aber klar ist auch: Wir müssen der besorgniserregenden Entwicklung ins Auge sehen, dass es hier eine neue Art von Pandemie gibt, durch die Mutation B.1.1.7. 80 Prozent aller Infektionen entstammen dieser Mutation. Sie ist ansteckender und gefährlicher, vielleicht nicht immer unbedingt tödlicher; aber wir müssen übrigens auch dafür Sorge tragen, dass die Zahl der schweren Erkrankungen wie Long Covid zurückgeht. Deswegen sehen wir uns einer sehr herausfordernden Situation gegenüber. Unsere Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass die Welle gebrochen wird. Das ist unser politisches Ansinnen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Ein Instrument zur Messung des Wellenbrechens ist der R‑Wert. Er bildet ab, wie stark die Zahl der Infektionen zunimmt. Wie kann die Welle gebrochen werden? Durch Impfen und Testen und Kontaktbeschränkungen. Unser Ziel ist, dass die Senkung des R‑Werts durch Impfen, Testen und Kontaktbeschränkungen größer ist als die Steigerung des R‑Werts durch Mutationen. Das ist der Wettlauf, dem wir uns entgegensehen. Und das schaffen wir nur durch eine ganz gezielte Kraftanstrengung.
Wir müssen mehr impfen. Es nützt jetzt nichts mehr, wenn wir über die Impfstoffbeschaffung der EU lamentieren. Wir müssen den Impfstoff, den es jetzt gibt, schneller verimpfen, auch die 3 Millionen Dosen, die auf Halde liegen, weil im April weitere 15 Millionen Dosen kommen. Deswegen müssen wir jetzt rund um die Uhr, 24/7, impfen, auch über Ostern. Das ist unsere Aufgabe, die wir jetzt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Dittmar [SPD])
Ich will aber auch anfügen, dass es ein Erfolg unserer Politik ist, dass 95 Prozent der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen mittlerweile eine Erstimpfung bekommen haben. Das zeigt, dass hier das Versprechen eingelöst worden ist, die besonders vulnerablen Gruppen zu impfen und zu schützen. Die Zahl an schweren Erkrankungen durch Covid in den Alten- und Pflegeheimen geht zurück. Das ist ein Erfolg der Politik.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Jetzt geht es darum, dass die 60 Millionen weiteren Dosen bis Ende Juni auf pragmatische Art zügig verimpft werden, und zwar auch durch Hausärzte und Betriebsärzte. Die Haus- und Betriebsärzte kennen ihre Patienten. Sie wissen, wie man impft. Das kann ein Gamechanger werden.
Wir wissen aber auch, dass wir in einer Welt leben, die durchlässiger geworden ist, trotz Einreisebeschränkungen. Deswegen wird die Pandemie nur vorbei sein, wenn sie überall auf der Welt vorbei ist. Und in über 100 Staaten dieser Welt ist noch keine einzige Dosis verimpft worden. Deswegen brauchen wir auch nach wie vor große Anstrengungen, um weltweit die Impfstoffproduktion anzukurbeln, weil wir wissen: Nur wenn die Welt geimpft wird, haben wir eine Chance gegen Corona insgesamt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Wichtig ist aber auch das Testen. Wir müssen mehr testen, und es muss mehr Möglichkeiten geben, durch Schnelltests Normalität zuzulassen.
(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)
Das wollen Selbstständige, das wollen Kunst- und Kultureinrichtungen; das lässt es auch zu, die Schulen offen zu halten. Ich glaube, dass mehr Kommunen die Möglichkeit haben müssen, Modellkommunen zu werden. Zudem brauchen wir am Arbeitsplatz weiterhin eine starke Fokussierung auf Homeoffice und gleichzeitig mehr Testungen.
Aber die Wahrheit ist auch: Das alleine wird im Augenblick aufgrund der Bedrohungen durch Mutationen nicht ausreichen. Wir brauchen für eine gewisse Zeit auch Kontaktbeschränkungen. Der Dreiklang aus Kontaktbeschränkungen, Impfen und Testen ist das, was wir den Menschen abverlangen müssen. Aber wir tun das, weil wir wissen, dass dadurch der Schutz der vulnerablen Gruppen zunimmt und das die einzige Möglichkeit ist, Corona zu bekämpfen.
Hier wurde jetzt auch gesagt, die Maßnahmen in Deutschland seien unverhältnismäßig. Ich glaube, Bund und Länder machen sich sehr stark Gedanken über die Verhältnismäßigkeit. In vielen europäischen Staaten sind die Maßnahmen übrigens wesentlich strenger als hier. Bei aller Kritik, die berechtigt ist, auch an der MPK, darf man eines nicht vergessen – und das ist mein letzter Gedanke –: Man darf nicht vergessen, dass wir in Deutschland durch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, aber auch durch einen klaren Kurs und durch eine Konzentration auf den Schutz unseres Gesundheitssystems dafür Sorge getragen haben, dass wir bislang gut durch die Pandemie gekommen sind. Wir wollen es mit den Maßnahmen verbessern, die ich dargestellt habe.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Dittmar [SPD])