Hermann Gröhe: Wir wünschen, dass eine gute Entwicklung dieses Landes allen Menschen zugutekommt
Rede zum Teilhabechancengesetz
Frau Präsidentin! Herr Minister! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu der eben gehörten Rede nur so viel: Ich habe keine einzige Idee, keinen einzigen Vorschlag gehört.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl wahr!)
Wenn Sie es mir erlauben, eine Bitte: Zitieren Sie am besten nicht Kurt Tucholsky und Einstein; sie haben es beide nicht verdient.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt aber zur Sache. Die Lage am Arbeitsmarkt im Herbst 2018, das heißt: eine robuste Entwicklung, Rekordbeschäftigung, steigende Reallöhne; das ist eine gute Nachricht für die Sozialkassen und für die Rentnerinnen und Rentner. Aber wahr ist auch: Diese gute Entwicklung in unserem insgesamt so wohlhabenden Land kommt nicht bei allen Menschen an. Die generelle Linie vieler Vorhaben dieser Regierung ist, dass wir wünschen, dass eine gute Entwicklung dieses Landes allen Menschen zugutekommt. Das bedeutet zweierlei, erstens sich auf die zu konzentrieren, denen es nicht gut geht, zweitens – das sage ich genauso klar – dafür zu sorgen, dass die gute wirtschaftliche Entwicklung anhält; denn nur dann kann sie allen zugutekommen. Insofern geht es immer um eine Einheit von kluger Wirtschafts- und Sozialpolitik, Entwicklung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung einerseits und andererseits gezielter Zuwendung denen gegenüber, die der besonderen Unterstützung bedürfen.
Wenn wir uns die letzten Jahre ansehen, dann ist es in Wahrheit so – die Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen es –: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist von 1,7 Millionen auf gut 800 000 gesunken. Es ist also keineswegs so, wie hier kritisiert wurde, dass die Entwicklung am Arbeitsmarkt den Langzeitarbeitslosen überhaupt nicht zugutegekommen wäre. Aber wir haben jetzt einen verfestigten Kern von Langzeitarbeitslosen, denen wir mit einem gemeinsamen Kraftakt – 4 Milliarden Euro in den nächsten Jahren – Chancen auf Arbeit geben wollen. Das Teilhabechancengesetz ist eine gute Nachricht für die vielen Menschen, die lange keine guten Nachrichten mehr vom Arbeitsmarkt erhalten haben, meine Damen, meine Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Der entscheidende Gedanke wird sein, diesen Menschen individuell bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie des IAB über die Vermittlungschancen von Langzeitarbeitslosen weist noch einmal auf die unterschiedlichen Lebenslagen hin: Da ist die Alleinerziehende, die Kinderbetreuung sucht – der Minister hat darüber gesprochen –, da sind gesundheitliche, körperliche und psychische Beeinträchtigungen, Suchterkrankungen; da sind Qualifikationsdefizite. Individuell zu helfen, erhöht die Chancen. Deswegen differenzieren wir bei den zwei neuen Instrumenten im Gesetzentwurf bewusst zwischen unterschiedlichen Stärken der Arbeitslosen. Aber es geht bei dem Konzept auch darum, über das starke Element des Coachings, der Begleitung und auch der Vorbereitung – das wird eine wichtige Aufgabe der Jobcenter sein –, den konkreten Lebenslagen gerecht zu werden.
Wir möchten, dass dabei besonders die Lage von Familien in den Blick genommen wird. Minister Heil sprach über die Herausforderung, dass Arbeitsmarktferne nicht ein vererblicher Zustand wird. Teilhabechancen für Eltern bedeuten auch größere Chancen für Kinder, selbst den Weg in Ausbildung und Arbeit zu finden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen ist die Betrachtung der Lage von Familien so wichtig. Wir wollen auch, dass an den Schnittstellen von Jugendhilfe und Arbeitsmarktpolitik bestmöglich zusammengearbeitet wird. Auch darüber werden wir im Gesetzgebungsverfahren reden. Wir wollen, dass mit dem Coaching die individuelle Situation von Familien in besonders guter Weise in den Blick genommen wird.
„Passgenau“ bedeutet aber auch: passend für die regionale Arbeitsmarktsituation. Da ist im Gesetzgebungsverfahren schon einiges konkretisiert worden, zum Beispiel wenn es um die Beiräte geht. Aber wir nehmen auch sehr ernst, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber, also die Sozialpartner, gemeinsam gesagt haben, dass sie in Kenntnis des Arbeitsmarkts ein Mehr an Mitwirkung vor Ort haben möchten. Ich denke, darüber können wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens reden.
Ich will auch auf das Thema Lohnbezug eingehen; der Minister hat es angesprochen. Wir wissen, dass uns das im parlamentarischen Verfahren weiter beschäftigen wird. Wir nehmen die Argumente, die dazu vorgetragen worden sind, ernst, aber sagen gleichzeitig: Wir haben uns gemeinsam im Koalitionsvertrag in Kenntnis dieser Diskussion anders entschieden. – Aber es geht natürlich darum, Arbeitgeber zu gewinnen, die die Instrumente nutzen.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)
Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist – das sage ich genauso offen –, ob wir bei einer über fünf Jahre angelegten sehr großzügigen Förderung eigentlich wirklich von einer Förderlücke reden dürfen, weil wir damit unterstellen, dass der Wertschöpfungsbeitrag der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Bereich gleich null ist. Mit Verlaub, eine Förderlücke beim Arbeitgeber besteht nur, wenn wir unterstellen, dass über den gesamten Förderzeitraum die Arbeitskraft dieses Arbeitnehmers keinerlei Beitrag zur Wertschöpfung erbringen kann. Ich glaube das nicht. Aber ich glaube, dass es sich lohnt, diese Argumente in einem Verfahren sachlich zu erörtern.
Insofern freue ich mich auf die Beratung über einen guten Gesetzentwurf, den wir gemeinsam sicher noch besser machen können. Das ist eine gute Nachricht für Langzeitarbeitslose in Deutschland.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)