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Antje Tillmann: Wir haben einen guten Teil des Wegs geschafft

Rede zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Anders als offensichtlich mein Kollege Keuter halten wir die Wiedervereinigung für einen Segen für Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind froh, dass es so gekommen ist. Wir reduzieren sie auf gar keinen Fall auf irgendwelche Milliardenbeträge, wie Sie gerade vorgerechnet haben.

Die Wiedervereinigung ist begeistert gefeiert worden, und sie ist gut für alle Menschen in Deutschland, egal ob in Ost oder West. Aber ich gebe zu: Sie war auch eine Herausforderung. Allein im verarbeitenden Gewerbe gingen kurzfristig 66 Prozent der Arbeitsplätze verloren, weil die DDR-Betriebe national und international nicht konkurrenzfähig waren. Die Arbeitslosigkeit stieg bis 2005 auf über 20 Prozent. Die Infrastruktur von Schulen, Krankenhäusern und Straßen war marode.

Das Grundgesetz gab das Ziel vor, „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in ganz Deutschland zu schaffen, und verständlicherweise haben die Menschen in den neuen Ländern gehofft, dass das sehr schnell geht. Sie haben die Ärmel hochgekrempelt und an diesem vereinten Deutschland gearbeitet. Ohne dieses unglaubliche Engagement der Menschen wäre diese Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen. Mit allem Geld der Welt hätte die Wiedervereinigung nicht so gut laufen können. Ich bin stolz und glücklich, dass ich diesen Teil der deutschen Geschichte miterleben durfte und dass wir heute rückblickend sagen können: Wir haben einen guten Teil des Wegs geschafft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Aber bei allem Engagement: Ohne finanzielle Unterstützung ist es natürlich nicht gegangen. Über zwei Solidarpaktgesetze und den Fonds „Deutsche Einheit“ flossen über 340 Milliarden Euro in die neuen Länder. Anders als der Kollege glauben machen möchte, floss der überwiegende Teil des Solidaritätszuschlags für Aufbau und Sanierungen in die neuen Länder.

Zur Finanzierung der Einheit ist der Solidaritätszuschlag eingeführt worden. Er macht 2018 18,5 Milliarden Euro aus. Das Geld fließt rein rechtlich zu 100 Prozent in den Bundeshaushalt, faktisch bleiben beim Bund aber nur rund 4 Milliarden Euro. Das liegt daran – auch das hat der Kollege verschwiegen –, dass der Bund 1995 zugunsten des Länderfinanzausgleichs inklusive neuer Länder dauerhaft 7 Mehrwertsteuerpunkte – das sind heute 15 Milliarden Euro – an die Ländergesamtheit abgetreten hat. Also bleiben nur 4 Milliarden Euro der Mittel aus dem Solidaritätszuschlag überhaupt beim Bund, und diese fließen über den Solidarpakt fast ausschließlich in die neuen Länder.

Der wesentliche Teil der Zahlen, die Sie dargestellt haben, Herr Kollege, ist einfach nicht richtig – ganz abgesehen davon, dass Sie die Wiedervereinigung und die Bemühungen um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags von Anfang an nicht positiv begleitet haben. Sie haben das in Ihrer Rede eben noch einmal bestätigt.

Zusätzlich zu den 2,8 Milliarden Euro, die nach dem Solidarpakt heute noch in die neuen Länder fließen, betragen die Zahlungen zum Ausgleich von Sonderlasten durch die strukturelle Arbeitslosigkeit 504 Millionen Euro. Hinzu kommen unter anderem die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die Mittel aus dem Programm INNO-KOM-Ost und Investitionsprogramme für Kindergärten und Schulen. Auch heute fließt der wesentliche Teil der Mittel aus dem Solidaritätszuschlag noch in die neuen Länder, um dort den Aufbau zu vollenden.

All das zeigt, dass die „Verfassungswidrigkeit“, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, so eindeutig nicht gegeben ist, zumal der Solidaritätszuschlag seit gestern offensichtlich noch verfassungswidriger geworden ist; denn gestern stand im Vorläufer Ihres Antrags wenigstens noch „nach Ihrer Auffassung“. Nach unserer Auffassung wird die Verfassungswidrigkeit nicht von der AfD-Fraktion festgelegt, sondern vom Verfassungsgericht. Ich bin sicher, dass wir mit dem Abbaupfad, den wir angekündigt haben, auf einem guten Weg sind.

An dieser Stelle ein großes Dankeschön an all diejenigen, die mit ihren Mitteln den Aufbau Ost finanziert haben. Die Menschen in Deutschland haben diese Mittel lange Zeit ohne Murren gezahlt,

(Zuruf von der AfD: Mussten sie ja!)

weil das Projekt Wiedervereinigung für ganz Deutschland wichtig war. Ein Dankeschön dafür, dass das gemeinschaftlich mit allen zusammen möglich war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nun ist die Anpassung aber so weit vorangeschritten, dass ein fremder Besucher den erheblichen Nachholbedarf der neuen Länder gar nicht mehr sieht. Wir haben annähernd gleiche Lebensverhältnisse erreicht; einigen wenigen Themen müssen wir uns noch zuwenden. Deshalb werden wir zusammen mit dem Koalitionspartner in einem ersten Schritt ab 2021 die Bürgerinnen und Bürger um 10 Milliarden Euro entlasten. 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger werden dann keinen Solidaritätszuschlag mehr zahlen. Das ist ein Riesenschritt, eine Riesenentlastung. Ich bin sicher, dass das auch bei den Bürgerinnen und Bürgern gut ankommt.

Wir müssen allerdings – auch das sage ich ganz offen – im Gesetzgebungsverfahren darauf achten, dass wir die Gleitzone, ab der der Soli doch weiterzuzahlen ist, so ausgestalten, dass die Grenzsteuerbelastung nicht zu hoch ist. Ich hoffe sehr – da blicke ich zu unseren Koalitionskollegen; das ist nämlich unser erklärtes Ziel –, dass wir auch den zweiten Schritt schon in diesem Gesetzgebungsverfahren anlegen, dass wir nämlich auch die restlichen 10 Prozent der Bürgerinnen und Bürger vom Solidaritätszuschlag entlasten. Diesen Abbaupfad sollten wir gemeinsam verabreden. Das gilt auch für die Körperschaftsteuer; denn auch hier wird der Solidaritätszuschlag im ersten Schritt noch nicht abgeschafft. Da vertraue ich auf die kollegiale Zusammenarbeit. Ich bin sicher, dass wir das im Gesetzgebungsverfahren gemeinsam hinbekommen.

Warum schaffen wir den Solidaritätszuschlag nicht sofort ab? Ich habe eben gesagt: Nur ein Teil von 4 Milliarden Euro fließt überhaupt in den Bundeshaushalt. Im Antrag der AfD – das gilt aber auch für den Gesetzentwurf der FDP, den wir morgen beraten – wird völlig verschwiegen, dass wir ab 2020 einen neuen Länderfinanzausgleich haben werden. 10 Milliarden Euro wird der Bund zusätzlich an die Länder zahlen. Diese 10 Milliarden Euro müssen wir im Haushalt darstellen. Da wir trotz dieser Belastung einen ausgeglichenen Haushalt erreichen wollen, sind wir schon bei einem Betrag von 20 Milliarden Euro, der aus dem Bundeshaushalt dann nicht mehr zur Verfügung steht.

Der AfD ist das völlig egal. In ihrer ersten Vorlage hat sie unter „Kosten“ und „Auswirkungen“ noch „Keine.“ geschrieben. Das zeigt, dass Sie sich mit diesem Thema überhaupt nicht befasst haben. Hinzu kommt, dass Sie im Wahlkampf gesagt haben, zusätzlich zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags – laut Ihrem Antrag etwa 18 Milliarden Euro – auch noch die Mehrwertsteuer um 7 Prozentpunkte senken zu wollen; das macht schlappe 50 Milliarden Euro aus. Die Summe von 68 Milliarden Euro wollen Sie aus dem Steuerüberschuss in Höhe von 37 Milliarden Euro finanzieren. Das kommt mir als Finanzpolitikerin etwas seltsam vor.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in den kommenden dreieinhalb Jahren, die gestern losgegangen sind, noch mehr vor. Wir wollen die Menschen nicht nur vom Solidaritätszuschlag entlasten, sondern auch die Familien bei Kindergeld und Kinderfreibetrag unterstützen. Wir wollen ein Baukindergeld einführen, damit sich Familien Wohneigentum leisten können. Wir müssen massiv in Wohnungen investieren. Wir wollen die Ganztagsbetreuung verbessern. Wir wollen die kalte Progression auch weiterhin abschaffen; hier geht es um 2 Milliarden Euro, um die wir die Bürgerinnen und Bürger entlasten wollen. Wir werden die steuerliche Forschungsförderung angehen.

Das alles sind Dinge, die wir zusätzlich zum Abbau des Solidaritätszuschlags tun und die insbesondere Familien und Menschen mit geringeren Einkommen unterstützen. Das ist ein Riesenprogramm für die nächsten Jahre. Ich glaube, damit sollten wir beginnen. Das können wir leisten. Das können wir trotz des konsolidierten Haushalts leisten. Ich lade Sie ein, dabei mitzumachen und nicht zu meckern und diesen Weg – eine Entlastung um 46 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode – mit uns gemeinsam zu gestalten.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)