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Thorsten Frei: Wir stehen hinter der Entscheidung vom 25. März und wir wollen sie auch nicht revidieren

Redebeitrag zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen vitalen Parlamentarismus erkennt man nicht daran, dass ein Parlament über alle Fragen entscheidet. Einen vitalen Parlamentarismus erkennt man daran, dass das Parlament über die großen Fragen entscheidet, die den Weg eines Landes bestimmen.

(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Meine sehr verehrten Damen und Herren, genau das tun wir in diesem Parlament. Alles, was die Bundesregierung im Wege von Verordnungen regelt, tut sie aufgrund einer Entscheidung dieses Parlaments. Wir entscheiden über das Ob, über das Wie, über das Wie-lange und darüber, wie umfangreich die Bundesregierung das tut. Deshalb ist es völlig daneben, hier so zu tun, als spielte das Parlament in dieser Debatte und bei der Bekämpfung dieser offensichtlichen Krise und Herausforderung keine Rolle.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Deutsche Bundestag hat am 25. März entschieden, dass wir in Deutschland eine epidemische Lage von nationaler Tragweite haben. Diese Entscheidung war richtig am 25. März. Diese Entscheidung war im Übrigen auch im weiteren Verlauf des Jahres richtig: Sie war auch im Sommer richtig, als die Infektionszahlen zurückgegangen sind, und sie ist erst recht heute richtig, wo wir damit konfrontiert sind, dass wir innerhalb von 24 Stunden über 15 000 neue Infektionen zu gewärtigen haben, nachdem wir letzte Woche noch von 3 000, von 4 000, von 5 000 Neuinfektionen gesprochen haben. Sie ist insbesondere dann richtig, wenn sich in nicht einmal zwei Wochen die Zahl der intensiv zu Pflegenden in den Krankenhäusern mehr als verdoppelt hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Entscheidung ist richtig, sie war richtig. Das haben auch die beiden Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen noch mal eindeutig bestätigt. Wir stehen hinter dieser Entscheidung, und wir wollen sie auch nicht revidieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Sie könnten sie revidieren, wenn Sie die Mehrheit dazu hätten, wenn es Ihnen gelänge, hier im Parlament und in der Bevölkerung die Menschen davon zu überzeugen, dass das, was Sie hier sagen, richtig ist. Sie können es aber nicht. Sie schaffen es nicht im Parlament, und Sie schaffen es auch nicht in der Bevölkerung. Deshalb ist unser Ansatz: Wir stehen hinter dieser Politik, und wir stehen hinter den Entscheidungen, die die Bundesregierung getroffen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles, was im Rahmen des § 5 des Infektionsschutzgesetzes passiert, basiert auf der Entscheidung des Deutschen Bundestages. Im Übrigen können wir perspektivisch natürlich rechtspolitische Diskussionen darüber führen, wie wir Dinge noch verbessern können. Ich will nur daran erinnern – weil es vorhin eine Rolle gespielt hat –, dass in den §§ 29, 30 und 31 sehr wohl Standardmaßnahmen im Infektionsschutzgesetz normiert sind.

Wir haben ein Interesse daran, dass die wesentlichen Entscheidungen vom Parlament getroffen werden. Wir haben aber auch ein Interesse daran, dass die Bundesregierung in einer schwierigen Krise, in der rasch Entscheidungen von großer Tragweite getroffen werden müssen, ohne dass man alle Rahmenbedingungen vollständig kennt, diese Entscheidungen wirklich rasch treffen kann, um Menschenleben zu retten. Diese Flexibilität sollten wir weder uns noch der Bundesregierung nehmen. Dafür stehen wir auch nicht zur Verfügung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir können darüber sprechen, wie wir in einer solchen Situation auch die Informationsbedürfnisse des Parlaments noch besser befriedigen können. Wir haben eine ganz gute Regelung in § 3 des EUZBBG, wenn es um europarechtliche Entscheidungen geht. Man kann darüber nachdenken, inwieweit man das auch auf epidemische Krisen übertragen kann. Ich will aber zur Wahrheit dazusagen, dass es kein Defizit gibt, wenn es darum geht, das Parlament zu informieren. Die Bundeskanzlerin informiert die Fraktionsvorsitzenden, und zwar alle Fraktionsvorsitzenden, wie gerade in dieser Woche wieder. Der Bundesgesundheitsminister informiert regelmäßig den Gesundheitsausschuss und die Obleute dort, und zwar aus allen dort vertretenen Fraktionen und Parteien. Deshalb gibt es kein offensichtliches Defizit. Ich möchte auch insgesamt sagen: Zeigen Sie mir den Staat in dieser Welt, in dem ein Parlament mehr Rechte hätte, wenn es darum geht, Regierungen zu bilden und zu kontrollieren, auf die Gesetzgebung Einfluss zu nehmen und am Ende auch die politische Debatte in einem Land zu bestimmen! All das machen wir hier in Deutschland, und wir machen es in extenso. Diese Debatte ist der beste Beweis dafür, dass Ihre Argumente ins Leere laufen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Unser Fraktionsvorsitzender ist darauf eingegangen: Wir hatten seit März 70 Debatten im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Coronapandemie. Wir haben in dieser Zeit rund 30 Gesetze in unmittelbarer Verbindung zur Covid-19-Pandemie hier behandelt, geändert und verabschiedet. Das ist legislatives Handeln. Das ist Handeln des Bundestages mit Gesetzen. Nehmen Sie allein das, was wir geschafft haben: Nicht nur im gesundheitspolitischen und sozialpolitischen Bereich, sondern auch rechtspolitisch, im Mietrecht, im Darlehensrecht, im Bereich des Aktienrechts, des GmbH-Rechts und der Strafprozessordnung – überall haben wir Entscheidungen getroffen, die Auswirkungen der Bekämpfung dieser Pandemie sind. Wir können jederzeit weitere solcher Debatten im Deutschen Bundestag führen.

Jeder, auch die Opposition, hat das Recht, selbst die merkwürdigsten Anträge in diesem Parlament zu stellen.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das haben wir letzte Woche gesehen!)

Wir haben das am 16. Juni erlebt, als die FDP hier den Antrag eingebracht hat, die Pandemie für beendet zu erklären.

(Stephan Thomae [FDP]: Falsch zitiert! – Weiterer Zuruf von der FDP: Das hat keiner gemacht!)

Selbst das ist in unserem Parlament möglich. Selbst das kann man machen. Daran kann man doch sehen, dass der Parlamentarismus hier leibt und lebt und dass die Dinge so funktionieren, wie sie funktionieren müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will zum Schluss eines sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der frühere Präsident Norbert Lammert hat das Parlament mal als Herz der Demokratie bezeichnet. Hier im Deutschen Bundestag werden die Grundsatzentscheidungen getroffen. Wer dem Deutschen Bundestag aufbürden will, dass er sich auch mit kleinen Entscheidungen beschäftigt,

(Sebastian Münzenmaier [AfD]: Kleine Entscheidungen?)

der macht aus dem Bundestag keinen Riesen, sondern einen Pygmäen. Wir wollen keine Ersatzexekutive sein, und wir wollen kein Bundeslandratsamt sein. Jede Ebene und jede Institution auch auf Bundesebene hat ihre Aufgaben und ihre Verantwortung. Wir haben das gut austariert.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal appellieren: Dieser Bundestag hat in den letzten zehn Jahren gemeinsam mit unserer Bevölkerung vieles durchgestanden. Ob es der drohende Kollaps der internationalen Finanzmärkte, die Auswirkungen der Subprime-Krise, die Gefahr des Zusammenbruchs unserer gemeinsamen europäischen Währung oder die epochalen Herausforderungen in der Migrationspolitik waren – wir haben es geschafft, und wir haben gezeigt, dass wir in den entscheidenden Stunden das Wohl unseres Landes über die Partikularinteressen stellen können. Das sollten wir auch hier tun.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)