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Hans-Jürgen Thies

Hans-Jürgen Thies: Onlineverhandlungen sind kein Allheilmittel

Rede zu virtuellen Gerichtsverhandlungen

Der FDP-Antrag ist gut gemeint, aber schlecht gemacht.

Bei der Durchführung einer virtuellen Gerichtsverhandlung werden zahlreiche Verfahrensgrundsätze tangiert, die in einem Rechtsstaat von fundamentaler Bedeutung sind. Zu erwähnen ist die Konzentrationsmaxime, der Mündlichkeitsgrundsatz, der Unmittelbarkeitsgrundsatz und der Öffentlichkeitsgrundsatz. Außerdem muss einer Prozesspartei in hinreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt werden, was unter anderem eine barrierefreie Verfahrensbeteiligung voraussetzt.

Virtuelle Gerichtsverhandlungen können zu einer Verfahrensbeschleunigung, zu einer Zeitersparnis und zu einer erheblichen Kostenersparnis, beispielsweise durch den Wegfall einer aufwendigen Reise zum Gerichtsort, beitragen.

In vielen Verwaltungs- und Finanzgerichtsverfahren, in denen es häufig nur um den Austausch von zuvor schon schriftsätzlich vorgetragenen Rechtsstandpunkten geht, kann die Ausweitung der Möglichkeit von Onlineverhandlungen sinnvoll sein. Gleiches gilt für sogenannte Durchlauftermine und solche Termine, bei denen Parteien nicht persönlich geladen sind und es keine Beweisaufnahme gibt. Häufig lassen sich gerichtliche Präsenzverhandlungen auch durch Entscheidungen in schriftlichen Verfahren vermeiden, vergleiche § 128 Absatz 2 ZPO.

Nach § 278 Absatz 2 ZPO ist der mündlichen Verhandlung eine Güteverhandlung unmittelbar vorgeschaltet, zu der das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet werden soll. Ein solches Streitschlichtungsgespräch kann ein Gericht mit seiner ganzen richterlichen Autorität und Überzeugungskraft aber nur im Rahmen einer Präsenzverhandlung mit den Naturalparteien führen.

Ist im Zivilprozess zur Tatsachenfeststellung und zur Wahrheitsfindung eine Parteianhörung oder eine Zeugenvernehmung geboten, dann kann zur Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auf eine Präsenzverhandlung nicht verzichtet werden. Zur zwischenmenschlichen Kommunikation gehört eben nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch die Körpersprache. Dies sowie etwaige äußere Beeinflussungen der Zeugen bei ihrer Vernehmung lassen sich in einer virtuellen Verhandlung nur unvollständig feststellen.

Nach dem FDP-Antrag sollen Onlineverhandlungen „auf Antrag einer Partei verpflichtend angeordnet“ werden müssen. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass in Amtsgerichtsprozessen viele Naturalparteien gar nicht anwaltlich vertreten sind und somit keinen Zugang zu verschlüsselter Übertragungstechnik haben.

Aber nicht nur Naturalparteien, sondern auch die allermeisten Zivilgerichte verfügen noch nicht über die technischen Voraussetzungen für die rechtskonforme Durchführung von Videoverhandlungen. Um den Grundsatz der Verhandlungsöffentlichkeit zu wahren, müsste dem Publikum die Möglichkeit eröffnet werden, den Verlauf der mündlichen Verhandlung optisch und akustisch in Gänze verfolgen zu können. Dem Lösungsvorschlag der FDP, dem Öffentlichkeitsgrundsatz gemäß § 169 Absatz 1 GVG dadurch zu genügen, dass die Verhandlung per Livestream im Internet übertragen wird, kann nicht zugestimmt werden.

Wir alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben in den zurückliegenden Wochen der Coronabeschränkungen an einer Vielzahl von Videokonferenzen teilgenommen. Dabei war immer wieder festzustellen, dass es bei der Übertragungstechnik klemmte. Mal setzte der Ton aus, mal war das Bild für einige Sekunden eingefroren. Derartige Übertragungsdefizite sind offenbar nach gegenwärtigem Stand der Technik nicht auszuschließen. Für die Durchführung einer rechtskonformen Videoverhandlung sind solche Störungen, auch wenn sie nur für wenige Sekunden andauern, schädlich. Erforderlich ist nämlich eine zeitgleiche und vollständige Video- und Audioübertragung.

Festzuhalten bleibt somit, Onlineverhandlungen können Zivilprozesse beschleunigen, sie sind aber kein Allheilmittel. Die Vorschläge im FDP-Antrag sind jedenfalls untauglich und werden deshalb abgelehnt.