Skip to main content

Wilfried Oellers: "Unser Sozialstaat hat sich handlungsfähig und wandlungsfähig gezeigt"

Rede zum Zugang zu Teilhabeleistungen

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer an den Endgeräten! Frau Rüffer, als ich den Antrag gelesen habe, wusste ich zunächst nicht, ob er einen roten Faden hat. Sie haben viele Punkte aufgeführt, die selbst in den elf Minuten meiner Redezeit – das sage ich ganz ehrlich – schwer zu erfassen sind.

Um die Geschichte der vielen betroffenen Menschen, die Sie gerade erzählt haben, vielleicht als Erstes aufzugreifen: Diese Fälle werden mir auch geschildert, und ich muss sagen, in einigen Fällen bin ich fassungslos, wenn ich sehe, wie die Verfahren laufen. Dennoch muss man natürlich sagen, dass selbst diese Ansprüche zunächst mal zu beantragen sind und ein Verfahren durchzuführen ist. Auch ich würde mir da mehr Beschleunigung wünschen; das sage ich ganz ehrlich.

Sie sprechen von einem „Sozialstaat auf Augenhöhe“. Was heißt das eigentlich? Ich will betonen, dass das Sozialleistungsverhältnis ein Leistungs-, Pflichten- und Obliegenheitsverhältnis ist. Die Bürger müssen einen Antrag stellen. Dieser sollte zügig bearbeitet werden; da bin ich voll bei Ihnen. Dann geht es aber darum, vonseiten des Staates solche Ansprüche – das verstehe ich unter einem „Sozialstaat auf Augenhöhe“, und ich bin der Meinung, dass wir diese Augenhöhe haben – kontinuierlich zu begleiten. Ich gebe zu: Das kann zum Teil sehr mühsam sein, ja. Aber ich glaube schon, dass wir in den letzten Jahren als Bundesregierung da vieles getan haben, insbesondere durch das BTHG. Das bringt natürlich viele Umstellungen und Neuerungen mit sich, auf die sich die Behörden bzw. Leistungsträger einstellen müssen.

Ich greife mal als ersten Punkt das Leistungsrecht heraus. Was haben wir nicht alles eingeführt! Das Wunsch- und Wahlrecht nach SGB IX wurde mit dem Bundesteilhabegesetz eingebracht. Die angemessenen Wünsche der Leistungsberechtigten werden im Rahmen der persönlichen, familiären und örtlichen Umstände, gerade was die gewünschte Wohnform betrifft, berücksichtigt. Selbst unangemessenen Wünschen ist zu entsprechen, wenn ansonsten der Bedarf nicht oder nicht umfassend gedeckt werden kann oder alternative Leistungen nicht zumutbar sind. Dem Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen ist immer der Vorzug zu geben, wenn der Leistungsberechtigte dies wünscht. Und damit einhergehende Assistenzleistungen im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen und persönlicher Lebensplanungen sind ebenfalls zu berücksichtigen.

Den Rechtsanspruch auf persönliche Assistenz haben wir im BTHG verankert. Gerade die persönlichen Assistenzleistungen dürfen nicht gemeinsam erbracht werden – Stichwort „Poolen“ –, wenn Leistungsberechtigte dies nicht ausdrücklich wünschen. Also, an der Stelle haben wir, denke ich, rechtlich alles getan.

Auch die in Ihrem Antrag enthaltene Forderung nach Einrichtung einer Clearingstelle haben wir mit der Einrichtung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung, denke ich, eigentlich schon erledigt. Da werden Menschen an die Hand genommen und durch den zugegebenermaßen bestehenden Dschungel von Leistungsanträgen geführt.

(Grigorios Aggelidis [FDP]: Es geht darum, diesen Dschungel abzuschaffen!)

Das Bemerkenswerte an den EUTBs ist, dass die Beratung gerade durch selbst betroffene Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen einbringen können, geleistet werden kann und so eine gute Beratung erfolgen kann. Wir haben mittlerweile 500 Beratungsstellen mit 1 800 Beschäftigten in Deutschland. Ja, bei den EUTBs gab es in jüngster Vergangenheit Schwierigkeiten mit den Förderungen. Da haben wir jetzt aber noch mal nachgelegt. Dieses Problem sollte jetzt behoben sein, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass wir die finanzielle Unterstützung der EUTBs entfristet haben. Damit haben wir letztlich diesen Einrichtungen Planungssicherheit gegeben, was ich für besonders wichtig halte. Ich denke, das muss man an der Stelle besonders betonen.

Aber nicht nur das Sozialrecht ist hier zu berücksichtigen. Ich denke, man sollte auch die Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts besonders hervorheben. Wir waren in dieser Woche ja gemeinsam in der öffentlichen Anhörung. In diesem Zusammenhang will ich besonders das Instrument der „erweiterten Unterstützung“ hervorheben. Es soll eingeführt werden, um statt der Anordnung einer Betreuung auch andere sozialrechtliche Hilfen zu vermitteln. Insgesamt werden mit dieser Reform auch der Erforderlichkeitsgrundsatz und das Prinzip der unterstützenden Entscheidungsfindung nach der UN-Behindertenrechtskonvention gestärkt.

Der zweite Punkt: verfahrensrechtliche Verbesserungen. Um die in Ihrem Antrag geforderte bessere Koordinierung von Sozialleistungen zu erreichen, ist ja auch gerade im Bundesteilhabegesetz das Teilhabeplanverfahren eingeführt worden. Dieses Verfahren sorgt dafür, dass bei mehreren Kostenträgern Leistungen aus einer Hand erbracht werden können. Für dieses Verfahren haben wir Fristen vorgesehen, damit man das nicht unendlich in die Länge ziehen kann, zum Beispiel, was die Zuständigkeit und Weiterleitung eines Antrags betrifft. Zu knapp dürfen diese Fristen natürlich nicht bemessen sein. Sie müssen im Teilhabeplanverfahren hinterlegt werden; denn sie müssen die ganze Komplexität, die solche Fälle mit sich bringen, mit berücksichtigen, gerade auch im Hinblick darauf, wer der zuständige Rehaträger ist. An dieser Stelle haben wir, denke ich, vieles verbessert. Verbesserungspotenzial besteht sicherlich immer noch.

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann setzen wir doch da an und verbessern!)

Aber ich will den Blick auch noch mal darauf lenken, dass wir mit dem geplanten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz den geforderten Verfahrenslotsen, den Sie angesprochen haben, einführen, damit Eltern von behinderten Kindern und Jugendlichen an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe unterstützt werden. Damit möchten wir eine verbindliche Zusammenarbeit der beteiligten Leistungsträger und eine verbindliche Beratung betroffener Kinder, Jugendlicher und ihrer Eltern erreichen. Auch wenn es bis dahin noch ein längerer Prozess ist, haben wir diese inklusive Lösung fest im Blick.

Als dritten Punkt will ich hier das von Ihnen angesprochene Thema der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in politische Prozesse aufgreifen. Das liegt mir ganz besonders am Herzen. Wir haben trotz Corona – zumindest war es bei mir so – viele Gespräche mit behinderten Menschen geführt. Dank digitaler Techniken war das alles möglich, und auf diese Weise konnten die Interessen von behinderten Menschen trotzdem platziert werden. Ich denke dabei an Veranstaltungen, die wir in unserer Fraktion durchgeführt haben, zum Beispiel an den Festakt „100 Jahre Schwerbehindertenvertretung“, eine digitale Werkstatträtekonferenz und viele andere Veranstaltungen, die wir durchgeführt haben. Dort haben Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit gehabt, ihre Anliegen direkt zu platzieren und Impulse zu geben.

Daraus sind Dinge erwachsen, die letztlich auch umgesetzt worden sind. Ich darf hier an die Finanzierung der Werkstatträte Deutschland erinnern, die ihr Finanzierungsproblem dargelegt hatten – sie waren ja auch zwischen den Trägern etwas hin- und hergetrieben; das konnte gelöst werden –,

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein kleines bisschen!)

und insbesondere an den Behinderten-Pauschbetrag im Steuerrecht, der seit 1975, nach so vielen Jahren, erstmals wieder angehoben worden ist. Ich gebe zu: Das ist viel zu spät; das hätte man viel früher lösen können.

(Dr. Matthias Bartke [SPD]: Danke, Olaf Scholz!)

Aber trotzdem: Es ist jetzt mal geschehen; da haben wir sicherlich einiges bewirkt.

Im Rahmen der Coronapandemie hat sich auch gezeigt, wie wandelbar und schnell leistungsfähig ein Sozialstaat ist. Was haben wir nicht alles für Programme auf den Weg gebracht: Mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, mit KfW-Programmen und Überbrückungshilfen haben wir die ganzen Einrichtungen gestützt, und das wollen wir natürlich auch weiterhin machen.

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir wollen ja nicht nur Einrichtungen stützen! Wir wollen ja Menschen helfen!)

Da wird es ganz wichtig sein, nicht nur die Zeit der Coronapandemie zu betrachten, sondern auch darüber hinauszublicken. In dem Zusammenhang möchte ich einen ganz herzlichen Dank an alle Behindertenverbände aussprechen, die während der ganzen Zeit nicht müde geworden sind, ihre Belange, die Belange der Einrichtungen und die Belange der behinderten Menschen vorzutragen, damit wir hier in der Politik genau wussten, wo wir ansetzen mussten. Diese Hinweisgeber brauchen wir weiterhin. Ich darf alle ermuntern, weiterhin den direkten Weg zu den Abgeordneten, zur Politik zu suchen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, um zum Anfang der Rede zurückzukommen: Sozialstaat auf Augenhöhe – was bedeutet das? Unser Sozialstaat hat sich, wie ich gesagt habe, im Rahmen der Coronapandemie in kürzester Zeit handlungsfähig und wandlungsfähig gezeigt. Aber auch darüber hinaus müssen wir schauen, dass wir die Situation der Menschen mit Behinderungen verbessern und dass insbesondere die Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes, also die Hinführung von Menschen mit einer Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt, geleistet wird.

Da stelle ich mir vor, dass man noch eine trägerübergreifende, unabhängige Lotsenstelle für Arbeitgeber einrichtet, damit auch diese durch das Dickicht der Förderleistungen geführt werden, und dass im Rahmen der Werkstätten für behinderte Menschen auch das Werkstattentgelt so finanziert wird, dass das Arbeitsförderungsgeld an das Ausbildungsförderungsgeld gekoppelt wird.

Nächster großer Punkt: die Barrierefreiheit. Da muss sicherlich viel mehr Tempo auf die Bahn,

(Beifall des Abg. Sören Pellmann [DIE LINKE])

aber da ist man schon dran.