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Tino Sorge: Wir dürfen nicht leichtsinnig werden

Redebeitrag zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite

Da hat die Kollegin recht. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte es mir jetzt einfach machen und sagen – kurzer Antrag der FDP, kurze Antwort –: Wir lehnen den Antrag ab. – Aber so einfach ist es dann doch nicht.

Es ist immer schade, wenn in der Debatte – das hat der Kollege Kuhle hier auch getan – einfache Antworten auf komplexe Dinge suggeriert werden.

(Beifall der Abg. Marianne Schieder [SPD] und Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Denn Herr Kuhle weiß es ja besser, er weiß, dass es so einfach nicht ist. Insofern ist es richtig, dass wir hier im Parlament diese Debatte führen. Es wird natürlich in den letzten Tagen und Wochen immer so ein bisschen der Eindruck erzeugt, als wären die Parlamentsrechte in Gefahr, als könnte das Parlament nicht mehr mitreden, als würden der Bundesgesundheitsminister, der Bundeswirtschaftsminister ohne Anhörung, ohne Kooperation mit dem Parlament Dinge durchdrücken. Da muss man sich auch mal angucken: Worüber reden wir? Wir führen diese Debatten auch hier im Parlament in einem großen Umfang; das machen wir ja gerade.

(Zuruf von der FDP)

Wir reden über begünstigende Verordnungen. Wir reden beispielsweise im Gesundheitsbereich über Hilfspakete im Milliardenumfang. Wir reden aber auch darüber, dass wir den Ernst der Lage jetzt nicht kleinreden dürfen. Und da geht es auch darum, dass der Ausnahmezustand natürlich nicht die Regel sein kann. Und natürlich ist es nicht richtig, von einer neuen Normalität zu sprechen.

(Dr. Wieland Schinnenburg [FDP]: Das hat der Minister gesagt!)

Deshalb sollten wir hier keine einfachen Antworten suggerieren.

(Dr. Wieland Schinnenburg [FDP]: Das hat er gesagt!)

Herr Kollege Schinnenburg – Sie fahren ja gerade wieder ein bisschen hoch –, ich empfehle Ihnen, auch mal innerhalb Ihrer Partei zu schauen. Der Oberbürgermeister von Jena, ein FDP-Kollege, hat bei der Diskussion um die Aufhebung der Kontaktbeschränkungen gesagt, dieser Schritt sei „verfrüht“, er sei „mutig“. Er hat gesagt, das sei „eine Art Mut, dessen Nachbar der Leichtsinn ist“. Genau das ist der Punkt: Wir dürfen nicht leichtsinnig werden

(Christian Dürr [FDP]: Das sagt doch keiner, Herr Sorge!)

und das verspielen, was wir hier erreicht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP)

Es ist völlig richtig, dass die Infektionszahlen zurückgehen. Das ist ja auch schön. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Bürger, dass wir alle verantwortungsbewusst mit der Situation umgegangen sind.

(Enrico Komning [AfD]: Unverhältnismäßig!)

Aber wir können doch nicht den Eindruck erwecken, es wäre jetzt alles überstanden.

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das sagt doch keiner!)

Gucken Sie sich doch an, was momentan los ist. Ich will jetzt nicht wieder mit Gütersloh anfangen – Kollege Henke hat es angesprochen –: 7 000 Menschen, die direkt oder indirekt betroffen sind. Wir haben Göttingen – das ist ja der Wahlkreis des Kollegen Kuhle –: Da haben wir ebenfalls sehr starke lokale Häufungen.

Wir haben jetzt aber auch Magdeburg. Ich sage ganz offen – Magdeburg ist mein Wahlkreis –, dass ich den Leuten immer erzählt habe: Na ja, wir müssen bei der Abwägung immer schauen, welche Langzeitfolgen die Maßnahmen in anderen Bereichen haben. – Es geht um das Thema Güterabwägung. Da ist es in der Debatte natürlich schwierig, dass in Gegenden wie auch Magdeburg – wir waren seit Anfang Mai neuinfektionsfrei – viele Menschen gesagt haben: Nun lasst aber mal die Kirche im Dorf, jetzt lasst uns doch all die Beschränkungen wieder runterfahren; das ist schon nicht so schlimm, und wenn was passiert, dann können wir da nachjustieren. – Wir haben in der letzten Woche Neuinfektionen gehabt, sind jetzt dabei, die zehnte bzw. die elfte Schule zu schließen. Daran sehen Sie, dass wir nicht mehr von lokalen Häufungen reden können, die man dann schnell eindämmt, sondern es ganz, ganz schnell zu einer nationalen Gesundheitsgefährdungslage führen kann. Deshalb ist Leichtsinn hier der falsche Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?

 

Tino Sorge (CDU/CSU):

Sehr gern.

 

Dr. Andrew Ullmann (FDP):

Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie sprechen hier immer von Leichtsinn und vom Aufheben von Beschränkungen. Dazu steht in unserer Gesetzesinitiative übrigens nichts drin.

Ich habe – wie auch die Grünen – das Gefühl, dass Sie den Ländern gar nicht zutrauen, Infektionsschutz zu betreiben. Da würde ich mal gerne wissen, wie Sie das sehen; denn ich traue den Ländern durchaus etwas zu. Würden Sie sagen, dass der Gesundheitsschutz und das Gesundheitswesen jetzt in Bundeshand übergehen sollten, dass das mal wieder der Bund machen sollte?

 

Tino Sorge (CDU/CSU):

Im Grunde ist das ja wieder eine Argumentation, bei der Sie die Dinge verdrehen. Aber es ist ein sehr guter Punkt, den Sie ansprechen, lieber Herr Kollege. Es wird ja in Ihrem Antrag genau dieser Eindruck erweckt, als könnte da niemand mehr mitreden, als würde der Minister Jens Spahn – da drüben sitzt er übrigens – Dinge machen, die er vorher mit niemandem besprochen hätte. Wir haben doch unabhängig von der Frage, ob wir eine epidemische Lage von nationaler Tragweite haben, die Länder sowieso immer mit im Boot. Das heißt, unabhängig von dieser Einschätzung sind die Länder immer mit beteiligt. Deshalb ist es richtig, dass wir über Lockerungen und die Beurteilung der Lage nicht nur hier im Parlament sprechen, sondern eben auch die Länder einbeziehen. Sie sind mit einbezogen. Insofern verstehe ich Ihre Frage in dem Punkt nicht so recht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Sabine Dittmar [SPD] und Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vielleicht auch noch einige Worte zu der Behauptung, das sei ja alles nicht mehr so schlimm und deshalb könne man die Maßnahmen ja jetzt wieder zurückfahren:

(Christian Dürr [FDP]: Das hat auch keiner gesagt!)

Erstens. Wir führen die Debatte, wir kontrollieren natürlich die Regierung.

Zweitens. Dass unsere Einschätzung keine ist, die völlig weltfremd wäre, sieht man auch daran, dass die Weltgesundheitsorganisation ihre Einschätzung, dass wir eine Gesundheitskrise von internationalem Ausmaß haben, immer noch nicht aufgehoben hat. Insofern sollten wir in der Beziehung auch in bisschen realitätsnäher sein, zumal wir bei der Frage, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt, ja immer nur über eine Momentaufnahme quasi von vor zwei Wochen reden. Keiner weiß also, wie die Lage in zwei Wochen aussieht.

Drittens. Wir wissen auch, dass es, wenn jetzt das Urlaubsgeschehen losgeht, wenn wir erfreulicherweise auch wieder in Europa reisen können, zum Ende der Urlaubssaison sicherlich wieder Fälle geben wird. Trotz aller Vorsicht muss man sicherlich mit Neuinfektionen rechnen.

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der FDP, lassen Sie uns doch bei der Frage, inwieweit die Maßnahmen, die wir in dieser Situation ergreifen, gerechtfertigt sind, die Gemüter ein bisschen runterfahren. Ich verstehe den Antrag. Die Begründung ist teilweise auch nachvollziehbar.

(Ulrich Lechte [FDP]: Sie ist komplett nachvollziehbar!)

Aber wir haben es doch in anderen Krisen gesehen: In der schwarz-gelben Koalition, von 2009 bis 2013, haben wir doch auch mitten in der Euro-Krise viele gute Dinge gemacht. Wir haben damals doch in einer besonderen Situation, in der wir auch momentan sind, die Parlamentsrechte nicht außer Kraft gesetzt. Ich führe gern mit Ihnen, auch gerade mit Konstantin Kuhle, eine Diskussion über staatstheoretische Fragen, zum Selbstverständnis eines Parlaments, über die Frage, inwieweit wir vielleicht an der einen oder anderen Stelle der Regierung stärker widersprechen sollten. Das können wir alles machen; aber in diesem Kontext ist es, glaube ich, nicht das Richtige.

Deshalb: Lassen Sie uns eher darüber diskutieren, wie wir mit digitalen Möglichkeiten – die Corona-Warn-App ist hier angesprochen worden – die Normalität für viele Menschen in unserem Land so schnell wie möglich wiederherstellen können.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

 

Tino Sorge (CDU/CSU):

Aber die Maßnahmen müssen so lang wie nötig greifen.

In diesem Sinne ist der Ort der Debatte das Parlament; das hat sich nicht geändert. Ich freue mich auf die Diskussionen und danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)