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Ralph Brinkhaus: "Wir müssen lernen"

Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lindner, die Zahl 50 und auch die Zahl 35 stehen im § 28a Infektionsschutzgesetz, hier im Deutschen Bundestag beschlossen, und sind insofern nicht willkürlich. – Das zu Ihrer Behauptung, der Deutsche Bundestag wäre hier nicht beteiligt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Und wo ist der Unterschied, Herr Brinkhaus? In der Rechtsfolge! Können Sie das erklären? Natürlich können Sie das nicht erklären!)

Wenn wir uns die Entwicklung der letzten Wochen und Monate angucken, dann muss man sagen: Der Lockdown wirkt. Wir kommen von Inzidenzen, von Neuinfektionszahlen von knapp 200, wir sind jetzt unter 65; das heißt, die Maßnahmen haben gewirkt.

Und wir liegen übrigens auch im europäischen Vergleich mit unseren Neuinfektionen sehr, sehr gut, besser als viele, viele andere Länder, besser als viele Nachbarländer. Wir liegen auch insgesamt noch sehr gut bei der Anzahl der Infizierten auf 100 000 Einwohner und auch, ja, bei der Anzahl der Toten auf 100 000 Einwohner. Was schlecht ist – das gehört zur Wahrheit leider auch dazu –, ist die Anzahl der Toten bei den Hochbetagten. Das ist eine Sache, wo wir uns als Gesellschaft fragen müssen, ob wir dort alles richtig gemacht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Christian Lindner [FDP]: Nicht die Gesellschaft! Nein, da muss die CDU sich fragen, ob sie alles richtig gemacht hat!)

– Meine Damen und Herren, das war jetzt sehr interessant. Jetzt sagt Herr Lindner: Da muss die CDU sich fragen.

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Ja, in der Tat!)

Also, ich finde es schon sehr, sehr interessant, wie Sie mit dieser Krise umgehen, wie Sie versuchen, parteipolitisch Kapital zu schlagen,

(Dr. Marco Buschmann [FDP]: Sie haben sich hier ins Parlament gestellt!)

wie Sie versuchen, Wahlkampf in der schwersten Krise zu machen, die diese Republik hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der FDP)

Es ist erbärmlich, Herr Lindner. Und die Wählerinnen und Wähler zeigen es Ihnen auch bei den Umfragen, dass das nicht verfängt, was Sie hier veranstalten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind beim Impfen zu langsam, aber mittlerweile ins Rollen gekommen, und wir sind beim Thema Wirtschaftshilfen – das muss man an dieser Stelle auch sagen – viel, viel umfangreicher unterwegs als die meisten anderen Länder. Und ja, Herr Mützenich, dazu gehört auch das Kurzarbeitergeld. Dazu gehört ein vereinfachter Zugang bei Hartz IV. Es ist ein Gesamtpaket, was wir im Bereich Wirtschaft auf den Weg gebracht haben, und es ist gut, dass die Überbrückungshilfe III jetzt auch ausgezahlt wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Und für all diejenigen, die jetzt sagen: Ja, aber in anderen Ländern ist es besser. – Ja, andere Länder haben andere Umstände. Australien ist eine Insel, und wir können uns gerne mal die Repressionsmaßnahmen in China daraufhin angucken, ob wir die hier haben wollen. Und im Übrigen ist es so, dass andere Länder auch nicht so viele Hochbetagte haben wie wir. Aber eins ist auch richtig: Alle Länder, die besser durch die Pandemie gekommen sind als wir, hatten zuerst einen radikalen Lockdown und haben zuerst die Zahlen nach unten geknüppelt, nach unten geprügelt.

Deswegen ist es auch richtig, was wir hier machen, dass wir sagen: Bevor wir in differenzierte Maßnahmen einsteigen, müssen wir erst die Zahlen nach unten kriegen.

(Dr. Marco Buschmann [FDP]: Das passt!)

Und das ist genau die Politik, die auch nach den Beschlüssen gestern in der Ministerpräsidentenkonferenz entsprechend weitergeführt wird. Diese Politik ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen ist es auch voll zu unterstützen, dass die Lockdown-Maßnahmen weitergeführt werden.

Sorgen bereitet mir allerdings, auch wenn es in unserem Grundgesetz so vorgesehen ist, dass die Länder individuell darüber entscheiden, die Schulen und die Kitas wieder zu öffnen. Ich habe da meine Zweifel, ob das in dieser Phase richtig ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn betrachten wir mal, von welchen Zahlen wir kommen. Die Bundeskanzlerin hat es gesagt: Wir kommen von Inzidenzen unter 10, unter 5, und da müssen wir auch wieder hin, um entsprechend die Öffnungen hinzukriegen.

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Sagen Sie das mal Ihren Kollegen!)

Natürlich ist es sehr, sehr hart für die Schülerinnen und Schüler, für die Eltern, für die Familien, und wir erkennen auch an, dass es hart ist. Es ist eine Zumutung. Aber es ist auch eine Zumutung, dass mehr als 60 000 Menschen in diesem Land gestorben sind, liebe Kolleginnen und Kollegen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

und auch das muss man immer wieder im Hinterkopf behalten, wenn man über Freiheitsrechte redet. Und ich bleibe dabei, Herr Lindner, was ich hier vor einigen Wochen gesagt habe: Freiheit ist auch immer die Freiheit der Schwachen und nicht nur die Freiheit der Starken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Kommen Sie mal zum Kern, statt hier herumzulabern!)

Aber wenn wir mal nach vorne schauen, dann reicht es ja jetzt nicht, dass Ministerpräsidenten, dass das Bundeskabinett, dass wir hier uns klar darüber sind, wie es weitergeht, sondern es gibt eine Menge Dinge, die noch zu tun sind. Ich möchte Ihnen fünf Dinge nennen, an die wir jetzt ranmüssen.

Das erste ist das Thema Schulen. Ja, es ist die Länderkompetenz. Aber trotzdem erwarte ich – gerade vor dem Hintergrund, dass jetzt wieder Öffnungen auf den Weg gebracht werden – Teststrategien, Lüftungsstrategien, Logistikstrategien, sodass die Schulbusse nicht mehr so voll sind. Beim Thema Schulen erwarte ich, dass es eine Lernstandserhebung dazu gibt,

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Ihr habt keine Strategie!)

was verpasst worden ist, dass es Konzepte dafür gibt, wie dieser Stoff über den Sommer hinweg durch Nachhilfe, durch Sommerakademien aufgeholt werden kann, dass es Konzepte dafür gibt, wie insbesondere die Kinder gefördert werden, die in benachteiligten Familien aufwachsen, wo nicht geholfen werden kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das gehört nämlich auch dazu. Ich glaube, wir haben im Bereich Schule sehr, sehr viel zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der zweite Bereich: Gesundheitsämter. Das Rückgrat unserer Pandemiebekämpfung sind die Gesundheitsämter. Ja, wir haben einen Pakt für das öffentliche Gesundheitswesen. Ja, wir haben mehr Geld bereitgestellt. Aber dieses Geld muss jetzt auch entsprechend umgesetzt werden. Die Softwarefrage muss schnell gelöst werden.

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Stimmt!)

Wir müssen die Prozesse analysieren, und wir brauchen eine Monitoringstelle, wo die Qualität der Gesundheitsämter auch tatsächlich kontrolliert wird; sonst können sie nicht das Rückgrat der Bekämpfung der Pandemie sein. Und ja, dazu gehört auch eine adäquate Bezahlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern.

Dritter großer Bereich: Altenheime. Wir haben jetzt viele Erfolge beim Impfen der hochbetagten Menschen erzielt, die in den Altenheimen wohnen. Wir brauchen aber eine weiterführende Strategie. Was ist mit den Menschen, die jetzt neu aufgenommen werden, die noch nicht geimpft sind? Wo gibt es da das Konzept, mit dem flächendeckend sichergestellt wird, dass derjenige, der neu in einem Altenheim aufgenommen wird, auch geimpft wird?

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Ja, sagen Sie es mal!)

Wie führen wir die Teststrategien weiter? Es reicht ja nicht, jetzt zu sagen: Alle sind geimpft, und alles ist gut.

Vor allen Dingen müssen wir eins klären – und das habe ich eben schon mal gesagt –, und das ist das große Problem, das wir in dieser Pandemie gehabt haben: Warum sind so viele Menschen in den Alten- und Pflegeheimen gestorben? Was ist dort falsch gemacht worden?

(Dr. Marco Buschmann [FDP]: Weil Sie das Problem über Monate ignoriert haben! – Weiterer Zuruf: Ja, dann macht es doch!)

Diese Fragen müssen nicht beantwortet werden, um mit dem Finger auf irgendjemanden zu zeigen, sondern um die Dinge in der Zukunft besser zu lösen und vor allen Dingen eine höhere Sicherheit für die Menschen dort zu erzielen.

Vierter Bereich: Impfen. Ja, wir beschaffen jetzt mehr Impfstoff. Das ist gut.

Wir brauchen eine zweite Sache, wir brauchen ein besseres Impfterminvergabemanagement. Was in einigen Bundesländern in den letzten Wochen passiert ist – dass 80-Jährige und über 80-Jährige tagelang in Telefonwarteschleifen festgehangen haben, dass sie in Onlineschleifen festgesessen haben –, das ist nicht akzeptabel, und das ist würde- und respektlos gegenüber den alten Menschen in diesem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Und wenn wir über das Thema Impfen reden, dann müssen wir uns auch darauf vorbereiten, dass diese Pandemie nicht vorbei ist, dass wir vielleicht nachimpfen müssen, dass wir noch mal impfen müssen, dass die nächste Pandemie kommt. Deswegen brauchen wir eine Impfstrategie 2022. Und eins haben wir gelernt: Bei aller Wertschätzung für globalisierte Wertschöpfungsketten brauchen wir eine Impfstoffproduktionsautarkie innerhalb der Europäischen Union. Wenn wir nicht in der Lage sind, unseren Impfstoff selbst herzustellen, dann werden wir immer von anderen Regierungen, von anderen Regionen abhängig sein. Dafür ist die Frage zu ernst.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Beim Thema Impfen, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich auf noch einen Punkt hinweisen. Wir tun hier immer so, als wenn alles zu langsam wäre und nicht schnell genug ginge. Das mag vielleicht auch richtig sein. Aber die meisten Länder in dieser Welt impfen noch gar nicht, insbesondere Schwellenländer, insbesondere Länder in der Dritten Welt.

(Dr. Marco Buschmann [FDP]: Was sind das für Vergleiche!)

Ich glaube, wir haben die moralische Verpflichtung, dass wir Impfstoff auch weltweit zur Verfügung stellen. Wir sollten nicht nur an uns denken, sondern wir sollten auch an die Welt denken, wenn wir über das Thema Impfen reden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch einen weiteren Punkt. Da können wir nicht warten, bis die Pandemie vorbei ist. Dabei habe ich sowieso die Befürchtung: Wenn die Pandemie vorbei ist, dann werden wir uns wieder anderen Dingen zuwenden und nicht den Katastrophen, nicht den Dingen, die auf uns zukommen können; denn diese Pandemie wird nicht die letzte Katastrophe sein. Sie wird nicht die letzte Pandemie sein. Die nächste Katastrophe kann im Cyberbereich stattfinden. Es können Klimafolgen sein wie Dürre, wie Hochwasser und viele andere Sachen. Wir haben eigentlich die Mechanismen, dass wir eine Risikoanalyse machen. Ja, wir hatten auch eine Risikoanalyse zu Pandemien; aber wir haben sie nicht ernst genug genommen. Dementsprechend müssen wir uns intensiver mit einer Katastrophenvorsorge beschäftigen.

Wir haben auch nicht die gesetzlichen Grundlagen. Ich bin der Meinung, dass der Deutsche Bundestag sehr gut und vernünftig mit der Sache umgegangen ist, dass wir gesetzliche Grundlagen in kurzer Zeit geschaffen haben. Aber wir müssen uns grundständig damit beschäftigen: Was ist denn bei nationalen Notständen? Wir haben eine Notstandsgesetzgebung im Wesentlichen für den Verteidigungsfall. Aber wir glauben doch alle nicht, dass die nächste große Katastrophe in diesem Land der Verteidigungsfall sein wird, sondern das wird etwas anderes sein. Und ja, wir müssen das Verhältnis von Exekutive und Legislative auch klären und definieren, und zwar für alle Katastrophen und für alle nationalen und europäischen Notstände.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, eines machen: Wir müssen uns besser darauf vorbereiten. Wir haben super Katastrophenstäbe in den einzelnen Landkreisen und in den Städten. Wir sind regional super aufgestellt mit den Feuerwehren und den Hilfsorganisationen. Aber denken wir an die operative Bund-Länder-Koordination bei Katastrophen: 24 Stunden, sieben Tage in der Woche ständige Katastrophenstäbe, Stäbe, die auch üben. Die Bundeswehr hat 70 Jahre für den Fall geübt, dass irgendwelche Panzer an unserer Grenze stehen. Sie sind Gott sei Dank nicht gekommen. Wir müssen den Umgang mit Katastrophen üben. Wir müssen Automatismen schaffen, dass wir mit diesen Katastrophen besser klarkommen. Darum geht es jetzt, und das muss die Lehre aus dieser Pandemie sein. Insofern haben wir noch sehr viel zu tun. Wir sollten das angehen.

Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass diese Pandemie aufhört. Aber, ehrlich gesagt, diese Krise wäre eine vergeudete Krise, wenn wir nicht daraus lernen würden. Wir müssen lernen. Einige Punkte habe ich Ihnen aufgezeigt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)