Skip to main content

Paul Lehrieder: "Das Kindeswohl muss im Mittelpunkt stehen"

Rede zu geschlechtsangleichende Behandlungen

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir debattieren heute über einen äußerst sensiblen und vielschichtigen Themenbereich. Der heute in erster Lesung vorliegende Gesetzentwurf soll zukünftig verhindern, dass in Deutschland geborene Kinder, die nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden können, durch Operation der inneren und äußeren Geschlechtsorgane angeglichen werden. Dies war häufig medizinisch nicht notwendig und geschah auf der Grundlage der damaligen medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und leider oft zum Leidwesen der betroffenen Kinder. Diese Praxis – so steht es auch im Koalitionsvertrag – wollen CDU/CSU und SPD nun beenden und feminisierende oder maskulinisierende Operationen nur noch in unaufschiebbaren Fällen, also in einem medizinischen Notfall, erlauben.

Die Frage nach dem Geschlecht eines Kindes wird in der Regel, sofern die werdenden Eltern es wissen möchten, bereits während der Schwangerschaft, aber spätestens nach der Geburt augenscheinlich schnell beantwortet – für viele Menschen zweifellos einer der schönsten und emotionalsten Momente ihres Lebens. Doch es gibt Kinder, die gesund auf die Welt kommen, aber anatomisch nicht eindeutig in die Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ passen. Jeder, der das Wunder der Geburt schon einmal erleben durfte, der kann sich sicher sehr gut vorstellen, welche sorgenvollen Gedanken Eltern im ersten Moment durch den Kopf gehen müssen.

Eine Betroffene schildert es in einem Zeitungsartikel so – ich darf das mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren –:

Als mein Kind auf die Welt kam, wurde alles infrage gestellt, was ich bis dahin über Geschlechtsidentität wusste. Die Geburt meines Kindes hat mich in einen Zustand versetzt, den ich am ehesten mit einem Schock umschreiben würde; nicht weil ich dieses Kind nicht wollte – im Gegenteil –, sondern weil ich kein Denkschema für das hatte, was uns da neu begegnete. Ich konnte und kann ein Sein in dieser Welt ohne die Kategorie männlich-weiblich überhaupt nicht fassen.

Für die meisten Eltern gehörte die unerwartete Konfrontation mit dieser Thematik zu einer der größten Herausforderungen überhaupt. Man kann nur erahnen, wie viele schlaflose Nächte und Sorgen damit einhergehen. Auch für uns Parlamentarier ist dies keine einfache Thematik. Wie stellt sich die medizinische bzw. wissenschaftliche Situation dar? Was dürfen Eltern entscheiden, und was müssen wir tun, um eine ungestörte Persönlichkeitsentwicklung in einer binär – männlich/weiblich – geprägten Gesellschaft zu gewährleisten?

Betrachtet man die reinen Fallzahlen, ergibt sich leider kein einheitliches Bild. Das Bundesverfassungsgericht hat sich beispielsweise 2017 auf einen Fall auf 500 Neugeborene festgelegt. Die Fachliteratur nennt hier eine deutlich geringere Häufigkeit bei Neugeborenen von 1 : 5 500. Gelesen habe ich auch von 300 Geburten im Jahr, die nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können. Doch ganz egal, wie oft dies tatsächlich vorkommt, eines gilt: Intergeschlechtlichkeit als unnormal zu betrachten und auf operativer Basis zu ändern, damit will die Große Koalition mit diesem Gesetzentwurf Schluss machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wollen die körperliche Integrität der Kinder und ihr Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung schützen. Ich hatte es eingangs bereits gesagt: Wir müssen dabei auch auf die Eltern schauen. Der Gesetzentwurf zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung schränkt die Rechte und Möglichkeiten der Eltern, in deren Obhut dieser kleine Mensch für die nächsten Jahre entlassen wird, ein. Herr Staatssekretär hat bereits darauf hingewiesen: Es gilt hier dasselbe – –

(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])

– Langsam, ich bin noch nicht so weit, Frau Rawert. Ganz ruhig! Ich bin noch nicht fertig.

(Mechthild Rawert [SPD]: Ich rege mich doch gar nicht auf!)

Es gilt hier dasselbe wie in vielen Bereichen mit Kinderbezug: Auch hier muss das Kindeswohl – das, was für das Kind eben notwendig ist – im Mittelpunkt stehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei dieser jetzt anstehenden Diskussion, Herr Staatssekretär, sehe ich die Chance, dass wir im Dreiecksverhältnis zwischen den Ärzten, dem Familiengericht und dem Erziehungsrecht der Eltern in Form von Beratung durch das Familiengericht und die Medizin das Kindeswohl am ehesten ermitteln. Im Dialog zwischen den drei Beteiligten ist am ehesten zu eruieren, was dem Kindeswohl dient. Ich freue mich auf die Sachverständigenanhörung am 13. Januar 2021. Da werden wir genau diese Fragen und genau diese Problematik im Spannungsverhältnis dieser drei eruieren, ausloten und hoffentlich eine gute Regelung auf den Weg bringen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)