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Marcus Weinberg: "Den Kindern fehlen Freizeit- und Sportangebote"

Jugend im Lockdown – Zeit für eine generationengerechte Krisenpolitik

Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brandenburg! Ich finde, am Anfang der Debatte müssen wir auch eine Brücke schlagen, und zwar zu der Debatte, die wir gerade geführt haben, in der es um die grundsätzliche Ausrichtung in dem konkreten Bereich, über den wir jetzt in dieser Debatte sprechen, in den nächsten Wochen geht. Deswegen geht es aus meiner Sicht um drei wesentliche Punkte:

Erstens. Ich halte es – und das ist in den letzten 60 Minuten formuliert worden – für dringend geboten, dass wir bundeseinheitliche Regelungen schaffen. Es ist ein Notfallmechanismus mit Blick auf die dramatische Situation in den Krankenhäusern, mit Blick auf die B.1.1.7-Mutante, dass wir als Bundestag bundeseinheitliche Vorgaben machen. Ich bin auch ganz offen – in aller Klarheit –, was Ausgangsbeschränkungen angeht, was die Fragestellung angeht, mit wie vielen Personen man sich in einem Haushalt treffen darf. – Das ist der erste Punkt. Das ist der Rahmen, und dieser Rahmen muss jetzt ausgefüllt werden.

Damit komme ich zu den zwei weiteren Punkten, die wichtig sind und wo wir, Herr Brandenburg, auch eng zusammenkommen.

Das Zweite ist: Bei all den Wellen und Phasen müssen wir auch genau betrachten: Welche Gruppen sind besonders betroffen? In der ersten und in der zweiten Welle waren es die Hochbetagten, die älteren Menschen, die wir schützen mussten, weil sie von dem Virus besonders betroffen waren. Jetzt sind wir in einer Phase, wo wir uns um die Kinder, um die vulnerable Gruppe der Jüngeren kümmern müssen.

Jetzt komme ich zum dritten Punkt. Das eine ist natürlich die körperliche Unversehrtheit, die körperliche Gesundheit. Was das bedeutet, erleben wir gerade in den Krankenhäusern. Aber – und da bin ich bei Ihnen – Menschen mit einer Depression, mit Magersucht oder Suizidgedanken landen in der Regel nicht im Krankenhaus und werden momentan nicht gezählt. Aber ihre Zahl nimmt extrem zu, und deswegen müssen wir intensiv darüber beraten, wie wir die psychosozialen Folgen jetzt abmildern und ein Programm entwickeln, um mit Blick auf die nächsten Jahre

(Abg. Petr Bystron [AfD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– ich lasse keine Zwischenfrage zu; vielen Dank – sozusagen die Folgewirkungen abzumildern.

(Beifall der Abg. Dr. Astrid Mannes [CDU/CSU])

Es muss dem Grunde nach in dieser Phase einen Aufschrei für Kinder und Jugendliche geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Petr Bystron [AfD]: Sie sind in der Regierung!)

Deswegen – nächster Punkt – will ich sagen: Ich muss leider unterstreichen, was Sie zu den Studien ausgeführt haben. Das Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf hat festgestellt, dass 80 Prozent der Kinder, also vier von fünf Kindern – wer mal eine Klasse mit 20 Kindern unterrichtet hat, der weiß, dass das eine gravierende Zahl ist –, besonders stark von der Pandemie belastet sind. Psychologen, Wissenschaftler und Kinderärzte reden von Entwicklungsschäden, und viele Eltern machen sich im Übrigen Sorgen um das Bildungsniveau ihrer Kinder. Deswegen gilt die grundsätzliche Aussage: Es geht um die kognitive Entwicklung, aber auch um die soziale und emotionale Entwicklung. Den Dreisatz kann man möglicherweise – das habe ich zumindest mal getan – auch später noch nachholen. Aber Schädigungen im Bereich der sozialen und emotionalen Entwicklung sind gravierend und – das ist momentan deutlich erkennbar – wirken auf die Kinder und Jugendlichen.

Die Folge ist: Es findet keine Sozialisation mehr bei den Kleinkindern statt; die Peergroups in der Adoleszenz können sich nicht mehr treffen und nicht mehr austauschen. Das alles fehlt. Den Kindern fehlen Freizeit- und Sportangebote. Und – das ist die entscheidende Frage – wo findet die Sozialisation statt? In Kindertagesstätten, Schulen und Jugendeinrichtungen. Und man muss sicherlich darüber reden, wie sehr dies junge Menschen in besonderen Lebenslagen betrifft. Ich denke da an diejenigen, die keinen Drucker zu Hause haben und nichts ausdrucken können. Wer erlebt hat, wie ein junges Mädchen vor der Jugendeinrichtung steht und ihren Stick abgibt, damit in der Jugendeinrichtung die Matheaufgabe ausgedruckt werden kann,

(Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]: Das hätten Sie ja schon ändern können!)

der weiß: Das ist ein großes Problem und eine große Herausforderung. Deswegen ist es jetzt unsere Aufgabe, dies auch mit den Ländern gemeinsam zu besprechen und anzugehen.

Die Fragestellung lautet also: Was ist beim Notfallmechanismus zu beachten? Impfen und Testen sind der erste Punkt. Dem Grunde nach ist das das Zentrale, und es betrifft auch Kinder und Jugendliche. Wir haben in das vorliegende Gesetz einen Inzidenzwert von 200 aufgenommen. Ich sage ganz offen: Eines muss uns alle umtreiben: Das Allerwichtigste ist, dass wir die Kitas und Schulen so lange wie möglich – irgendwann wird es mit Blick auf den Gesundheitsschutz nicht mehr möglich sein – offen halten,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

unter Beachtung des Schutzes der Kinder. Das heißt, dass man auch mal differenziert überlegen muss: Wie kann man das machen? Wenn, wie wir im Gesetz formuliert haben, zweimal in der Woche getestet wird, dann ist das ja noch nicht das Ende. Man kann auch fünfmal in der Woche testen, und man kann auch ganz deutlich sagen: Jedes Kind, jede Lehrerin, jede Erzieherin muss entweder geimpft oder getestet in die Schule kommen. Das wäre eine Maximierung der Sicherheit und des Schutzes.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielleicht gelingt es uns dann, den Betrieb an den Schulen etwas länger aufrechtzuerhalten.

Denken Sie daran: Die nächsten Wochen werden schwierig und ambitioniert, für uns alle, aber insbesondere für die Kinder und Jugendlichen. Schulschließungen werden irgendwann möglicherweise – einige Länder haben die komplette Schließung ab Montag ja wieder angeordnet – die Folge sein. Aber wenn wir versuchen wollen, das zu vermeiden, dann müssen wir, glaube ich, auch über diese Dinge noch mal nachdenken.

Ab Mitte Juni kommt auch eine andere Phase, nämlich sechs Wochen Sommerferien. Früher haben sich sehr viele Menschen darüber gefreut, wenn sie mal sechs Wochen nicht zur Schule mussten; ich gestehe ein, ich auch. Wenn man erlebt, wie ein Grundschüler, der nie proaktiv erzählt hat, wie toll es in der Schule ist, sondern der immer gesagt hat: „Ja, Schule mache ich so“, jetzt auf einmal erlebt, wie wichtig ihm die Schule ist, der nach Hause kommt und als Allererstes erzählt, wie toll der Versuch war, den man in der Grundschule in der 4. Klasse gemacht hat, dann ist das doch ein Indiz dafür, wie die Situation bei den Kindern ist. Deswegen müssen wir beachten: Sommerferien heißt, dass möglicherweise bis Mitte August einige Kinder nicht mehr in die Schule gehen werden. Das muss uns dazu bewegen, darüber nachzudenken, wie wir mit einer Konkretisierung der Stellschrauben zu Veränderungen kommen.

(Zuruf der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE])

Und dann – da bin ich beim Kollegen Brandenburg – geht es um das Durchstarten nach der Pandemie – Stichworte „psychosoziale Folgen“, „therapeutische Angebote“ und das Nachholen der kognitiven Lernfähigkeiten zum Beispiel durch Wochenendseminare. Das alles ist etwas, was die Länder als diejenigen, die in diesem Bereich die Kompetenz haben, hauptverantwortlich zu entwickeln haben. Wir als Bund werden das mit unterstützen und wollen das auch mit unterstützen.

Die jetzige Phase ist die eine Phase. In der mittel- und langfristigen Phase danach müssen wir die Folgewirkungen für Kinder und Jugendliche abmildern. Damit haben wir eine Riesenaufgabe vor uns.

(Stephan Brandner [AfD]: Wer ist denn verantwortlich für die Situation, die gerade herrscht? Sie sind doch verantwortlich für die Situation zurzeit! – Petr Bystron [AfD]: Kürzen Sie das doch einfach ab, dann müssen Sie keine Folgen beheben! Mein Gott!)

Daran müssen wir in den nächsten Wochen unsere Ziele ausrichten, Herr Kollege, und das werden wir auch tun.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)