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Axel Müller: Schweigen ist eben keine Willenserklärung

Rede in der Debatte zu Organspenden

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für mich als Strafrichter war es ein Geschenk, dass unsere Verfassungsväter im Artikel 102 des Grundgesetzes die Todesstrafe abgeschafft haben.

(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Damit musste ich niemals über Leben und Tod entscheiden. Aber heute geht es um Leben oder Tod.

Es ging häufiger um lebenslänglich. Aber als oberstes Prinzip galt dabei immer für mich, dass ich mich erst ganz am Ende eines längeren und intensiven Prozesses der Entscheidungsfindung entschieden habe und mein Urteil gefällt habe, das allen gerecht zu werden versuchte: dem Opfer und seinen Angehörigen genauso wie dem angeklagten Täter.

Aus diesem Grunde möchte ich Ihnen heute sagen, dass ich nach wie vor unentschieden bin. Ich befinde mich noch in der Entscheidungsfindung, gewissermaßen in der Beweisaufnahme. Aber eines ist klar: Trotz allen Vorwissens nach Aktenlage muss man die heutige Debatte auf sich wirken lassen. Ich zolle an dieser Stelle allen meinen Vorrednern und Vorrednerinnen größten Respekt für das, was sie hier heute in diesem Hohen Haus gesagt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Entscheidung Zustimmungs- oder Widerspruchslösung fällt mir – das merken Sie –, der ich es doch eigentlich gewohnt sein müsste, mich entscheiden zu können, sehr schwer. Denn hier geht es um den Ausgleich zwischen höchst unterschiedlichen Interessen. Auf der einen Seite steht das Selbstbestimmungsrecht des möglichen Spenders über seinen Körper und auf der anderen das Interesse des Kranken, eine Überlebenschance zu bekommen.

Wir haben im geltenden Transplantationsgesetz eine Entscheidungslösung festgeschrieben. Wir müssen jedoch feststellen, dass es zu wenige Spender gibt. Und auch ich hoffe natürlich, dass die auf den Weg gebrachten und hier mehrfach angesprochenen Verbesserungen in der Organisation zu mehr Spenderorganen führen werden. Um die Beantwortung der entscheidenden, vorgelagerten Frage, wie wir die Bereitschaft zur Spende feststellen, kommen wir aber nicht herum. Ich habe daher versucht, entscheidungserhebliche Fragen, so wie ich es gelernt habe, zu stellen. Eine davon lautet: Wie würde ich mich eigentlich als Kranker fühlen, wenn ich auf einer Warteliste stünde und die Diagnose hätte, dass ich sterben würde, wenn ich nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Spenderorgan bekomme, zugleich aber feststellen müsste, dass die Liste lang ist und die zu erwartenden Spenderorgane wenige?

Alle acht Stunden – das wurde schon mehrfach gesagt – stirbt in diesem Land ein Mensch, weil ein Spenderorgan nicht vorhanden ist. Ist es da nicht fair, einfach zu sagen, dass grundsätzlich jeder einwilligt, es sei denn, er widerspricht? Mit dieser scheinbar einfachen und kurzen Antwort kann und will ich mich jedenfalls nicht zufrieden geben. Es ist auch angeklungen: Schweigen ist eben keine Willenserklärung.

Ich habe mich an das erinnert, was ich gelernt habe: Welches Motiv steckt hinter einer Entscheidung bzw. Nicht-Entscheidung? Ist es Vorsatz oder ist es fahrlässige Gedankenlosigkeit? Als gläubiger Christ habe ich gehofft, dass meine Kirche mir eine Antwort geben würde. Diese sieht in der Organspende einen Akt der Nächstenliebe. Dieser verlange jedoch, dass der Spender sich ausdrücklich entscheidet. Nur eine ausdrückliche Zustimmung werde dem gerecht, also klar: Entscheidungslösung.

Ich habe mich dann allerdings daran erinnert, dass Jesus Christus in der Bergpredigt das Gebot der Nächstenliebe universal verstanden hat. Das heißt: Grundsätzlich trägt jeder von uns die moralische Pflicht in sich, als Spender zur Verfügung zu stehen. Das wäre die Widerspruchslösung.

Nach der heutigen Debatte steht für mich fest: Wir als Gesellschaft und jeder Einzelne von uns ist durch unsere ganz individuelle Entscheidung gefordert, bewusst – und somit mit Vorsatz – darüber nachzudenken, wie wir diesem Gebot, diesem Akt der christlichen Nächstenliebe am besten gerecht werden – gleich welchen Weg wir gehen: Widerspruchslösung oder Zustimmungslösung.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)