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Dr. Ursula Leyen: Europa kann sich der Weltlage nicht entziehen

Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung Verteidigung

Vielen Dank, Herr Präsident. – Zu Beginn einer Legislaturperiode steht immer eine Bestandsaufnahme an. Im Bereich der Sicherheitslage fällt sie ernüchternd aus.

Die Welt ist seit 2014 unberechenbarer und unsicherer geworden. Das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern. Die Stichworte sind heute zuhauf gefallen: Terrorismus, Bürgerkriege, instabile Staaten an der Peripherie Europas, aber auch die provokative und teils offene Machtprojektion Russlands bis hin zu weitreichenden Raketen- und Waffenvernichtungswaffen in den Händen eines Mannes wie Kim Jong Un.

Eines haben wir in den vergangenen Jahren aber gespürt: Europa kann sich dieser Weltlage nicht entziehen. Europa muss sich diesen Herausforderungen stellen: dem Terror, der Unsicherheit, den Cyberattacken, aber auch den subtilen Versuchen der Destabilisierung unserer Gesellschaften. Dabei ist Deutschlands Beitrag unverzichtbar.

Uns leiten vier Maximen.

Erstens: Glaubwürdigkeit. Ein Land von der Größe und von der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands muss den Anspruch haben, auch am scharfen Ende Verantwortung zu übernehmen, dort, wo es Krisen und Konflikte gibt, wo es keine schönen Bilder mehr gibt, wo es kein Lob und keinen Applaus mehr gibt. Aber wir müssen uns nach Kräften einsetzen, für die eigene Sicherheit, die eigenen Werte und auch die eigenen Interessen, wobei wir dabei auch unsere Grenzen kennen. Die Grenzen bedeuten nämlich, dass wir nie alleine unterwegs sind, sondern immer nur in Bündnissen. Aber wir stehen fest an der Seite unserer Partner, auch wenn es schwierig und gefährlich wird, sei es in Mali, in Afghanistan oder im Kampf gegen den IS.

Zweitens: Verlässlichkeit. Wir stehen selbstverständlich ohne Wenn und Aber zu unseren Verpflichtungen und Zusagen in den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und auch in der NATO.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir dürfen nicht vergessen: Das sind die Bündnisse, denen Deutschland mehr als 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand verdankt. Deswegen gehört für mich zur Verlässlichkeit dazu, dass für Deutschland auch bei schwierigen Debatten, etwa wenn es um unser Verhältnis zu Russland geht, jederzeit und bei aller Bereitschaft zum Dialog, die wir haben, klar ist, wo wir stehen, auf welcher Seite des Tisches wir sitzen. Wir sind auf der Seite der offenen und der freiheitlichen Gesellschaften des Westens, in denen die Meinungsfreiheit respektiert wird, Bürgerrechte herrschen und die internationalen Regeln des Völkerrechtes beachtet werden.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Nur bei der Türkei nicht! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Kriegsrhetorik!)

Drittens. Wir wollen transatlantisch bleiben, aber wir wollen auch europäischer werden. Ja, Europa muss mehr Verantwortung übernehmen. Denn es ist völlig klar, dass niemand für uns unsere eigenen Probleme wegräumen wird. Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir auf einem gewachsenen Fundament aufbauen, das die freien, demokratischen Gesellschaften Europas und Nordamerikas verbindet. Dieses gilt es zu stärken und immer wieder unermüdlich auch zu erneuern, allen Differenzen zum Trotz. Denn gerade in einer multipolaren Welt, in der die autokratischen Gegenentwürfe jeden Tag unsere demokratischen Errungenschaften herausfordern, wäre es fatal, wenn wir dieses Fundament infrage stellen würden. Deshalb bleibt die Wertegemeinschaft der NATO unverzichtbarer Anker unserer Sicherheit. Der NATO gehören 29 Länder an; aber von denen sind 22 europäische Länder. Das heißt, es ist ein ganz starker europäischer Kern, für den wir uns auch weiterhin mit großer Kraft im Bündnis engagieren und den wir verteidigen werden.

Zugleich wollen wir aber mit aller Energie daran arbeiten, dass Europa auch in Fragen der Sicherheit und Verteidigung eigenständiger und handlungsfähiger wird. Wir haben deshalb in den vergangenen zwei Jahren zusammen mit Frankreich viel bewegt. Wir haben die europäische Verteidigungsunion aus der Taufe gehoben. Das war ein historischer Schritt. Jetzt gilt es, das mit Leben zu füllen und ganz pragmatisch die Zusammenarbeit weiter nach vorne zu bringen. Wir wollen kräftig daran arbeiten, dass wir das Ziel einer Armee der Europäer weiter nach vorne bringen, womit wir ja bereits begonnen haben. Das sieht man ja daran, wie eng wir mit den Niederländern und den Franzosen zusammenarbeiten. Dieses weiterzuentwickeln, das ist unser gemeinsames Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die vierte Maxime ist: Sicherheit ist mehr als körperliche Sicherheit. Es ist umfassende Sicherheit. Nur der kluge Mix der Instrumente von der Diplomatie über die Entwicklungszusammenarbeit bis hin zum Einsatz militärischer Mittel bringt nachhaltigen Erfolg. Das heißt auch, dass wir unsere militärischen Mittel klug und sinnvoll nutzen, ob es im Einsatz sei oder auch zur Ertüchtigung von Partnern in Krisenregionen, damit diese vor Ort auch selbstständiger ihre eigene Sicherheit verteidigen können.

Dabei ist und bleibt die Bundeswehr unverzichtbarer Teil unserer Sicherheitspolitik. Die Soldatinnen und Soldaten sind gefordert wie selten zuvor, und sie leisten ihren Dienst für unser Land hier in der Heimat, aber auch in anderen Ländern der Welt mit bewundernswertem Engagement und mit großem Erfolg und hoher internationaler Anerkennung, trotz aller Anstrengungen, trotz aller Entbehrungen und Gefahren. Dafür zollen wir ihnen Respekt und Anerkennung. Vor allem aber sind wir ihnen aus vollstem Herzen dafür dankbar.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Aber ich will auch sehr deutlich sagen: Das ist von unserer Seite nicht genug. Das ist das Mindeste, aber es ist nicht genug. Denn die Bundeswehr agiert in einem breiten Spektrum von Einsätzen auf drei Erdteilen und zwei Weltmeeren: Afrika, Mittelmeer, Balkan, Indischer Ozean, Irak bis hin nach Afghanistan. Das ist die große Palette der einsatzgleichen Verpflichtungen im Rahmen der Bündnisverteidigung. Das sind eben nicht nur die regelmäßige Teilnahme am Air Policing im Baltikum oder unser Schutz in Litauen, sondern das sind auch die vielen bündnisgemeinsamen Übungen überall in Europa, die sich allein in den letzten zwei Jahren in der Anzahl und Intensität verdoppelt haben.

Zurzeit sind knapp 18 000 Soldatinnen und Soldaten gebunden, alleine ungefähr 10 000 in der Bündnis- und Landesverteidigung und etwa 3 500 in den mandatierten Einsätzen. Die Vielfalt der Aufgaben verlangt von der Bundeswehr, eine enorm breite Palette an Fähigkeiten vorzuhalten, sodass wir sehr flexibel reagieren und uns mit großem Tempo auf die unterschiedlichen Herausforderungen einstellen können.

Wir werden diese Aufträge erfüllen. Aber zur ganzen Geschichte gehört auch, dass wir nicht verkennen dürfen, woher die Bundeswehr kommt. Natürlich war die Verkleinerung der Armee der Einheit nach der Wiedervereinigung und am Ende des Kalten Krieges richtig und geboten. Aber das lief alles unter dem Eindruck – der damals auch richtig war –, dass es um uns herum immer friedlicher wird. Das Stichwort „Friedensdividende“ kennen wir alle.

Spätestens aber seit der Finanzkrise im Jahr 2008 und in den fortfolgenden Jahren gingen die Kürzungen und die Reduzierung der Bundeswehr an die Substanz, sozusagen unter die Grasnarbe. Eine solche Entwicklung hat übrigens alle europäischen Streitkräfte betroffen, nicht nur die Bundeswehr. Das heißt, aus der Not sind hohle Strukturen entstanden, mit denen wir noch heute zu kämpfen haben. Wir hatten Panzerbataillone ohne Panzer. Gerät wurde quasi kannibalisiert, damit Ersatzteile zur Verfügung stehen. Es wurde in Massen weggegeben; das passiert bis heute. Obergrenzen für das Material und das Personal wurden eingezogen, keine Obergrenzen, die man von unten nicht überschreiten darf, sondern starre Obergrenzen, auf die man von oben herunterschrumpfen muss, und zwar möglichst bis unterhalb dieser Grenzen.

Dann kamen 2014 die Annexion der Krim durch Russland, der Siegeszug des IS und die Destabilisierung Afrikas. Damals wurde klar, dass wir nicht nur in Krisen- und Konfliktmanagement mehr gefordert sind, sondern auch in der Landes- und Bündnisverteidigung und gleichzeitig die Modernisierung schaffen müssen. Deshalb haben wir umgesteuert. Die Bundeswehr wächst wieder. Wir haben von Anfang an Transparenz geschaffen. Wir haben die Probleme der Bundeswehr offengelegt, damit wir systematisch, Schritt für Schritt, wieder wachsen können. Wir haben mit dem Weißbuch eine gemeinsame strategische Grundlage gelegt, auf der wir die Trendwenden bei Material, Personal und Finanzen herbeigeführt haben. Wir haben die große Phase der Trendwenden begonnen. Aber jetzt beginnt die Zeit der Umsetzung. Wir müssen stetig dabeibleiben. Was 25 Jahre lang gekürzt wurde, holt man nicht in zwei Jahren nach. Keine einzige große Organisation würde es schaffen, in zwei bis drei Jahren sich strategisch neu auszurichten, ihre Personalstrategie komplett umzustellen, ihren Materialbestand im Wert von über 200 Milliarden Euro in weiten Teilen zu erneuern oder zu modernisieren und weiterhin auf hohem Niveau bei der Digitalisierung nach vorne zu schreiten. Das heißt, die Richtung stimmt, in die wir uns bewegen. Aber das Ganze braucht Geduld, es braucht Zeit, und es braucht vor allen Dingen auch Geld.

Wir sind noch lange nicht dort, wo wir sein wollen. Aber bei den 53 Hauptwaffensystemen, die allein auf eine Bestandsgröße von über 5 000 Stück kommen, liegt inzwischen die mittlere Einsatzbereitschaft bei 70 Prozent. Gelegentlich wird die Frage gestellt, ob man nicht mit der Beendigung der Auslandseinsätze auf einen Schlag die Einsatzbereitschaft verbessern könnte. Das ist absoluter Unsinn. Es sind nicht die Einsätze, die uns belasten, sondern es ist vor allem die Landes- und Bündnisverteidigung, der in der Vergangenheit nicht genügend Beachtung geschenkt wurde, weil es immer friedlicher wurde. Die Landes- und Bündnisverteidigung sowie die großen Übungen, die angesetzt sind, stellen eine große Belastung für die Truppe und das Material dar. Das heißt, ein Ende aller Einsätze wäre überhaupt kein Befreiungsschlag. Im Gegenteil: Es wäre eine Gefahr für unsere Sicherheit und die europäische Sicherheit. Es wäre zudem politisch verheerend.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Frau Ministerin, Sie müssen zum Ende kommen. Ich kann Sie nicht daran hindern, weiterzureden. Aber ich muss dann die Zeit bei Ihren Kollegen abziehen.

(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das war ja bei uns auch so! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das kommt mir vor wie 20 Minuten!)

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung:

Ich muss dennoch sagen, dass mir in dieser Legislaturperiode sechs Punkte wichtig sind.

Erstens. Wir wollen den Weißbuchprozess weiter ausdifferenzieren. Wir werden jetzt die Konzeption für die Bundeswehr vorlegen. Wir werden das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr daran ausrichten.

Zweitens. Wir werden das Rüstungswesen weiter modernisieren. Das bedeutet die Umsetzung der Überjährigkeit im Finanzwesen, die Verbesserung des Vergaberechts und die Untersuchung der Beschaffungsorganisation im BAAINBw. Dieses Bundesamt leistet hervorragende Arbeit. Aber es ist an seiner Grenze angekommen. Es braucht mehr Ressourcen und neue, flexiblere Instrumente.

Drittens wird die Agenda „Nutzung“ Fahrt aufnehmen, damit wir die materielle Einsatzbereitschaft nachhaltig erhöhen.

Viertens wollen wir Chancen der Digitalisierung für die Bundeswehr nutzen. Die Digitalisierung ist auch für uns das Megathema in dieser Legislaturperiode.

Wir werden fünftens die Trendwende beim Personal vorantreiben. Wir müssen uns als moderner Arbeitgeber weiter verbessern. Wir haben die richtigen Schritte in der Agenda „Attraktivität“ gemacht. Aber jetzt geht es in die zweite Runde. Wir werden ein Gesetzespaket schnüren. Dabei geht es um die Zulagen sowie die Gehalts- und Besoldungsstrukturen, eine verbesserte soziale Absicherung und ein flexibleres Dienstrecht.

Sechstens. Wir wollen die Trendwenden durch die Agenda „Ausbildung“ ergänzen. Der Militärische Führungsrat hat zu Recht gesagt: Insbesondere die Ausbildung im Heer muss aus der Zentralisierung herausgenommen und in die Truppe zurückverlegt werden, damit sie lebensnah, persönlicher und praxistauglicher wird.

Schlussendlich bleibt aber die entscheidende Frage: Was ist uns das alles wert? Meine Antwort lautet: Es wird mehr werden müssen. Der 51. Finanzplan ist eine tragfähige Ausgangsbasis, nicht mehr und nicht weniger. Deswegen ist es gut, dass der Koalitionsvertrag wichtige weitere Aussagen trifft, nachdem der Verteidigungshaushalt zusammen mit den Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und Krisenprävention weiter gestärkt werden kann. Das ist dringend nötig für alle drei Ressorts. Es geht damit los, dass weder die ODA-Quote noch die NATO-Quote sinken dürfen. Wir wollen die ODA-Quote mit 0,7 Prozent erreichen. Wir werden uns im NATO-Zielkorridor aufwärtsbewegen.

Das sind alles trockene Zahlen. Dahinter steht aber: Wenn unsere Soldatinnen und Soldaten, diese Männer und Frauen, für uns den Kopf hinhalten, bereit sind, ihre Gesundheit und ihr Leben für uns einzusetzen, dann haben sie nicht nur unseren Dank und unsere Anerkennung verdient – das haben sie auch –, dann haben sie vor allem verdient, dass sie bestmöglich ausgerüstet und ausgestattet werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)