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Monika Grütters: Wir wollen die Stasiunterlagen dauerhaft und für künftige Generationen bewahren

Redebeitrag zum Bundesarchivgesetz und der Einsetzung einer oder eines SED-Opferbeauftragten

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 15. Januar 1990 stürmten Bürgerinnen und Bürger die Zentrale der Staatssicherheit der ehemaligen DDR in der Berliner Normannenstraße und bewahrten damit unzählige Stasiakten vor der Vernichtung. Zwei Jahre später öffnete der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – so der genaue Titel –, kurz: BStU, seine Pforten. Weltweit – weltweit! – zum ersten Mal hatten Menschen damit die Möglichkeit, nach dem Sturz einer Diktatur nachzuvollziehen, welche Informationen die Geheimpolizei über sie gesammelt hatte und wer die Spitzel waren. Die rechtssichere Grundlage dafür hatte der Deutsche Bundestag Ende 1991 mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes geschaffen.

Wenn wir heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die Eingliederung der Stasiakten in die Verantwortung des Bundesarchivs und die Einsetzung einer oder eines SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag beschließen, ist dies keinesfalls ein Schlusspunkt, sondern – ganz im Gegenteil – es ist die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschem Vorzeichen,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

eine späte deutsch-deutsche Vereinigung, wie es vor ein paar Tagen in einer Sonntagszeitung so treffend formuliert war.

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat der BStU im Umgang mit den Schicksalen der Stasiopfer und den gesammelten Informationen stets ein sehr hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein in diesem sehr sensiblen Aufgabenbereich bewiesen. Dafür danke ich insbesondere den Bundesbeauftragten Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Mit dem jetzt vorliegenden Gesetz wollen wir die Stasiunterlagen dauerhaft und für künftige Generationen bewahren, als Teil unseres gesamtstaatlichen Gedächtnisses unter dem juristischen Dach des Bundesarchivs und im Kontext weiterer Archivbestände, die einen Bezug zur ehemaligen DDR und zur Zeit der deutschen Teilung haben. Wir führen die Kompetenzen und Erfahrungen des Bundesarchivs und des Stasi-Unterlagen-Archivs zusammen, deren Beschäftigte künftig formal in einer Behörde tätig sein werden.

Die Zugänglichkeit der Stasiakten – das ist ganz wichtig – an den jetzigen Standorten und die besonderen gesetzlichen Regelungen zur Akteneinsicht bleiben unverändert erhalten. Zugleich verbessert sich der Zugang zu den Akten, die künftig deutschlandweit auch an sämtlichen Standorten des Bundesarchivs und digital einsehbar sein werden. Die im Gesetz vorgesehene Ombudsperson für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag wird sich für die Belange genau dieser Menschen einsetzen.

Aber nicht minder wichtig als die vorgesehenen Neuregelungen ist der breite politische und gesellschaftliche Konsens, der diese Neuregelungen trägt. Sie sind das Ergebnis eines langen Prozesses politischer und gesellschaftlicher Verständigung mit kontroversen, teilweise natürlich auch emotional geführten Debatten.

Konflikte zuzulassen und auszutragen, ist Teil der Aufarbeitung leidvoller Diktaturerfahrungen in einer Demokratie. Das ist mühsam, und das kann gerade für die Betroffenen auch sehr schmerzhaft sein. Umso mehr freue ich mich über das breite Bündnis für die Zukunft der Aufarbeitung der SED-Diktatur, das heute hinter diesem Gesetzentwurf steht. Es ist auf der Grundlage eines gemeinsamen Konzepts des BStU und des Bundesarchivs entstanden, das der Bundestag 2019 mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und Grünen gebilligt hat. Es wurde aus der Mitte des Bundestages eingebracht. Es wurde unter anderem mit den Opferverbänden beraten und wird von ihnen unterstützt. Und heute können wir es hoffentlich mit breiter Mehrheit verabschieden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Die Stasiunterlagen bleiben unverzichtbar für die umfassende Aufarbeitung des SED-Unrechts. Sie können uns helfen, das Bewusstsein für den Wert eines demokratischen Rechtsstaats auch in künftigen Generationen lebendig zu halten. Denn sie dokumentieren, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Menschen, die man bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, wurden zermürbt durch Schikanen im Alltag, durch willkürliche Inhaftierungen, durch Verunsicherung und Isolation. Sie wurden gedemütigt, entwürdigt, misshandelt oder kamen sogar zu Tode. Lebenswege wurden verhindert, Familien zerstört. Die Denunzianten waren Bekannte, Nachbarn, manchmal engste Freunde. Mit diesem engmaschigen Netz der Beobachtung, unter dem Misstrauen und Angst gediehen, unterhöhlte der Staatssicherheitsdienst das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft.

Die Stasiakten offenbaren aber auch den unbeugsamen Widerstandsgeist der Gegnerinnen und Gegner des SED-Regimes und die Zivilcourage vieler Menschen in der DDR, die den Machthabern im Streben nach Freiheit und Demokratie die Stirn boten. Der Schriftsteller Reiner Kunze hat die knapp 3 500 Seiten seiner Stasiakte zu einer Dokumentation mit dem Titel „Deckname ‚Lyrikʼ“ verarbeitet und in seinem „Vers zur Jahrtausendwende“ die Haltung formuliert, mit der er selbst dem SED-Regime bis zu seiner Ausbürgerung standhielt – ich zitiere –:

Wir haben immer eine wahl,

und sei’s, uns denen nicht zu beugen,

die sie uns nahmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Im Gegensatz zu einer Diktatur ist Demokratie korrektur- und lernfähig und eröffnet Handlungs- und Mitgestaltungsspielräume. Meine Hoffnung ist, dass die Auseinandersetzung mit den Stasiunterlagen den Blick eben dafür schärft und auf diese Weise die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen totalitäre Ideologien und gegen populistische Demokratieverächter stärkt. In diesem Sinne bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für die Eingliederung des Stasi-Unterlagen-Archivs in die Verantwortung des Bundesarchivs.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)