Skip to main content

Johannes Selle: Der Auftrag bleibt, die Aufarbeitung geht weiter

Redebeitrag zur Änderung des Bundesarchivgesetzes

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Lieber Roland Jahn! Für den Deutschen Bundestag haben die Aufarbeitung und das Gedenken der eigenen Geschichte eine hohe Bedeutung. Wir sind damit Vorbild für viele Länder. Mit dem Überführen der Stasiunterlagen in das Bundesarchiv erreichen wir auf diesem Gebiet eine neue Etappe, indem wir klarstellen: Diese Akten gehören zu den bedeutenden Dokumenten der deutschen Geschichte, der Auftrag bleibt, die Aufarbeitung geht weiter, und die Akten bleiben zugänglich.

Wenn wir von den mutigen Menschen der Friedlichen Revolution sprechen, dann verdienen die Besetzer der Stasizentralen besondere Erwähnung. Sich an die Hochburgen zu wagen, war der kritische Punkt. Mit der Herrschaft über diese Akten entstand erst das Gefühl von Sicherheit, dass das Regime verloren hat. Am 6. November 1989 befahl Erich Mielke, die Archive zu säubern. Am 4. Dezember verhinderten die Demonstranten in Erfurt, dass die Dokumente des Schreckens verschwinden. Der organisierte Zugang zu den Akten führte zu Enttäuschungen und zum Erschrecken über das Ausmaß der Skrupellosigkeit, aber er führte nicht zu Lynchjustiz und Aufruhr. Demokratisch, transparent, gleichberechtigt und anlassbezogen, zum Beispiel bei der Besetzung von Funktionen – man kann den Prozess als vorbildlich bezeichnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Durch diese Akten wird allerdings eindrucksvoll dokumentiert, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Urteile wurden handschriftlich auf der Akte vermerkt, wie sie dann verkündet wurden. An die unentdeckten Täter wird das Signal gesendet, dass jederzeit die Wahrheit herauskommen kann, und an die Opfer wird das Signal gesendet, dass wir dranbleiben und uns Wahrheit und Rehabilitation wichtig sind.

Bei der eifrigen Vernichtung der Akten versagten die einfachen Schredder, und so zerrissen die Bediensteten die kritischen Akten mit der Hand. Von den Säcken konnten 16 000 sichergestellt werden. Die Wiederherstellung dieser Akten ist eine Mammutaufgabe. Aber innovative Technologien und moderne Software werden uns dabei helfen.

Wir ziehen keinen Schlussstrich, sondern modernisieren die Verwaltung und schaffen gleiche Standards der Aktenarchive an den Außenstellen des Bundesarchivs. Die Stasiunterlagen jedes Bundeslandes werden an einem Standort konzentriert, und es werden Investitionen in die Aufbewahrung getätigt. Alle Standorte werden zur digitalen Einsichtnahme aufgerüstet. Die Standorte ohne Aktenbestand werden in Gedenkstättenkonzepte integriert. Als Ansprechpartner für die Opfer sollte es einen besonderen Beauftragten geben.

Der Blick in die eigene Akte bleibt ein besonderes Erlebnis. Das Interesse ist auch nach 30 Jahren ungebrochen. An jedem Arbeitstag muss die Behörde circa 250 Anträge bearbeiten. Die Hälfte davon sind Erstanträge, weil man erst mit dem Eintritt in die Rente die Kraft und die Zeit aufbringt, einen Blick in die eigene Akte zu werfen.

Das Bundesarchiv ist das Gedächtnis unserer Nation. Alle wichtigen Archivunterlagen und Dokumente unserer Geschichte werden hier gesichert und für die Öffentlichkeit nutzbar gemacht. Deshalb ist der Übergang kein erster Schritt in die Unerreichbarkeit der Akten, sondern in gewisser Weise eine Aufwertung. Wir schaffen Synergien und Einsparungen mit der einheitlichen Verwaltung und zukünftigen Digitalisierung aller Bestände.

Wir wünschen uns, dass die Außenstellen noch stärker ins Bewusstsein treten, indem sie an den Standorten in die Gedenkstättenkonzepte der Länder eingebunden werden. Authentische Orte müssen erhalten bleiben; denn dort können vor allem junge Menschen am besten erfahren, wie Diktaturen entstehen können und wie sie wirken. Wir fördern diese Arbeit mit dem Programm „Jugend erinnert“. Es sollen attraktive audiovisuelle und digitale Angebote entwickelt werden.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Konsens. Beteiligt waren die Länder, die Opfergruppen und die Mitarbeiter. Die Zusammenführung zwei so großer bedeutender Behörden braucht Zeit und die Abwägung aller Aspekte und Sorgen. Von Beginn an waren auch die Personalvertretungen von Bundesarchiv und Stasiunterlagenbehörde eingebunden; sie haben wichtige Hinweise gegeben, und man ist zu einvernehmlichen Lösungen gekommen.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht eine sehr gute Vorlage für die Beratungen im Ausschuss und für die öffentliche Anhörung in der nächsten Woche.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Thomas Hacker [FDP])