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Eckhard Pols: Wir brauchen die Kraft, der Wahrheit ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit

Redebeitrag zum Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunehmend verblasst die Erinnerung an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, ohne den es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben hätte. Doch der Zweite Weltkrieg bleibt auch 75 Jahre nach Kriegsende in Deutschland immer noch ein zentraler Bezugspunkt. Warum ist das so? Weil die Dimension der im und nach dem Krieg von Deutschen und an Deutschen geübten Menschenrechtsverbrechen so gewaltig war, dass nahezu jede Familie in Europa unmittelbar betroffen war. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Union bis heute eine Fraktionsgruppe und einen im Bundesinnenministerium angesiedelten Bundesbeauftragten eingerichtet hat, die sich bis heute mit dem Kriegsfolgenschicksal beschäftigen.

Aber es sind nicht die Betroffenen, die hinter dem Vorhaben dieses Koalitionsantrages stehen. Dennoch sprechen wir von einem weiteren Meilenstein deutscher Erinnerungspolitik. Wie passt das zusammen?

Liebe Kollegin Schieder, auch ich möchte mich bei Ihnen für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Weil es in der Presse nicht so rübergekommen ist, muss eigentlich mal deutlich gemacht werden, dass wir hier in der Koalition sehr gut zusammengearbeitet haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Es waren einzig und allein die beteiligten Kultur- und Vertriebenenpolitiker, die für das Gedenken an bisher weniger beachtete Opfer des Nationalsozialismus einen neuen Erinnerungsort schaffen wollen.

Meine Damen und Herren, beispielsweise die deutsch-französischen Beziehungen erscheinen durch den Zweiten Weltkrieg weniger belastet zu sein als unsere Beziehung zu Polen. Im öffentlichen Bewusstsein ist in der Tat kaum verbreitet, dass Paris den Krieg nahezu unzerstört überstanden hat, weil es 1944 entgegen einem Führerbefehl den Alliierten übergeben worden war. Hingegen wurde Warschau ebenfalls 1944 fast dem Erdboden gleichgemacht. Bei dem vergeblichen Versuch der polnischen Heimatarmee, die Hauptstadt zu befreien, kamen über 100 000 Zivilisten ums Leben. Im besetzten Polen gab es sechs NS-Vernichtungslager, von denen Auschwitz nach wie vor das bekannteste ist. Auf ukrainischem Boden, so jüngste Schätzungen, befanden sich über 2 000 Plätze von Massenerschießungen.

Unsere Fraktion hat sich seit 1949 für Versöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den NS-Opfern und für Solidarität und Lastenausgleich in der eigenen Bevölkerung eingesetzt, die von den Kriegsfolgen unterschiedlich betroffen war. Wir halten dabei am Postulat des Bundespräsidenten und Christdemokraten Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 fest – ich zitiere –:

Wir brauchen … die Kraft, der Wahrheit … ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.

Die historische Wahrheit ist allerdings heute in Gefahr. Unsere Fraktion beobachtet mit großer Sorge – darauf wies ich schon einmal hin –, dass die Erinnerungskultur und die Deutung des Zweiten Weltkrieges widersprüchlicher, ja umstrittener sind denn je. Die Leitlinien unserer Geschichtspolitik finden sich daher im Antrag wieder.

Erstens. Der Holocaust ist aufgrund seiner Monstrosität ein singuläres Verbrechen, dem eine besondere Erinnerung gebührt. Jegliche Versuche, ihn durch Verweise auf andere NS-Verbrechen zu relativieren, lehnen wir strikt ab.

Zweitens. Es gibt kaum ein Land in Europa, das zwischen 1938 und 1945 nicht zeitweise von deutschen Truppen besetzt worden ist. Die Aufarbeitung der Besatzungsherrschaft muss daher den gesamten Kontinent umfassen, nicht nur den Osten.

Drittens. Jeglicher Geschichtsklitterung ist durch die Aufarbeitung auch schwieriger Themen wie dem Bombenkrieg oder der Zwangsarbeit deutscher Zivilisten entgegenzutreten. Die Forschung hat neue Studien zu Hunderttausenden Besatzungskindern oder zur Kollaboration mit dem Dritten Reich vorgelegt, mit denen sensibel umzugehen ist.

Viertens. Der neue Ort des Gedenkens an den Vernichtungskrieg und die Besatzungszeit darf keine Konkurrenz zu bestehenden Gedenkeinrichtungen erzeugen. Dies war uns sehr wichtig; denn lange und letztlich erfolgreich haben wir uns dafür eingesetzt, dass auch das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen anerkannt wird.

Meine Damen und Herren, besonders habe ich mich darüber gefreut, dass die Grünen in ihren Antrag einen von mir eingebrachten und später gestrichenen Satz zu den deutschen Ostgebieten wieder aufgenommen haben. Ich finde es schön, dass Sie sich endlich mit dem Thema auch angefreundet haben.

Ich darf noch einmal auf die alarmierende Geschichtsvergessenheit hinweisen, die der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland zunehmend registriert. Mit dem vorliegenden Antrag nehmen wir diese geschichtspolitische Herausforderung gemeinsam an, und die Debatte wird schon in der nächsten Sitzungswoche fortgesetzt.

Die Union steht zur deutschen Verantwortung für die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts. Wir lassen im Namen aller Opfer nicht zu, dass die deutsche Geschichte missbraucht wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)