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Dr. Volker Ullrich: "Wir wollen eine Aufarbeitung in der gesamten Gesellschaft"

Rede zur Anerkennung von NS-Opfergruppen

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist heute eine wichtige Stunde für den Deutschen Bundestag. Das ergibt sich daraus, weil wir Opfern der nationalsozialistischen Willkürherrschaft eine Stimme, ein Gesicht und eine Anerkennung geben; Menschen, deren Schicksal zu lange im Schatten stand; Opfern der Nationalsozialisten, die wir nicht nur lange übersehen haben, sondern die dieser Staat auch nicht sehen wollte. Deswegen ist es wichtig, dass ihr Schicksal heute in das Licht gerückt wird und dass wir der Gruppe – und ich spreche ganz bewusst in Anführungszeichen – der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ die Anerkennung geben, die sie verdient hat, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist klar: Es darf keine Relativierung der absoluten Schuld des Holocaust, des Völkermords an Jüdinnen und Juden und den Roma und Sinti geben. Jede Opfergruppe verdient ihre differenzierte Betrachtung. Aber dass wir erst 75 Jahre nach Kriegsende im Deutschen Bundestag darüber debattieren und einen Antrag beschließen, zeigt, dass wir bei dieser Frage zu spät handeln. Aber besser jetzt als nie, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wichtig ist, dass deutlich wird, dass hier eine Pervertierung des Rechts durch den NS-Unrechtsstaat vorlag, dass die Aktion zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung seit 1937 und die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ Methoden des Unrechtsstaates waren, um Menschen, die eigentlich Hilfe des Staates gebraucht hätten, weiter zu stigmatisieren und damit im KZ der Vernichtung zuzuführen. Das müssen wir uns noch mal vor Augen führen: Es geht darum, dass Menschen, die Hilfe verdient hätten, diese Hilfe damals nicht bekommen haben und dass der Staat diese Menschen vernichtet hat. Das dürfen wir nicht vergessen. Da dürfen wir auch nicht Opfer gegeneinander ausspielen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jeder, der in einem KZ war, war Opfer dieser Willkürherrschaft. Deswegen macht es mich betroffen, wie Sie, Herr Kollege Jongen, argumentiert haben. Ich kann das nicht so stehen lassen. Ihre Rede war eine einzige Heuchelei.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen auch, warum. Es gibt in Ihrer Partei eine nicht unmaßgebliche Person, die eine sogenannte erinnerungspolitische Wende um 180 Grad gefordert hat. Diese Person steht nach den Worten Ihres Fraktionsvorsitzenden in der Mitte Ihrer Partei.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da will ich nicht wissen, was da rechts ist!)

Wenn Sie also eine erinnerungspolitische Wende wollen, dann wenden Sie sich von all dem ab, was wir heute gesagt haben, und dann sind Ihre Worte Heuchelei.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Eva Högl [SPD]: So ist es!)

Wenn Sie sich nicht davon abwenden, dann müssten Sie und all Ihre Kollegen sich fragen lassen, und zwar zu Recht, warum Sie noch Mitglied in einer Partei sind, die solche Menschen in ihren Reihen duldet. Diese Frage müssen Sie heute auch beantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen eine Aufarbeitung in der gesamten Gesellschaft. Wir müssen das zur Aufgabe der Gedenkstätten machen und auch zu einer Aufgabe der Zivilgesellschaft. Ich bin froh, dass sich die Initiative einer Petition letztlich auch in diesem Antrag wiederfindet. Ich würde mich freuen, wenn in den Schulen und in den Bildungsstätten über das Schicksal dieser Menschen stärker gesprochen wird, weil auch sie ihre Rehabilitation verdient haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Auch wenn nur noch wenige betroffene Menschen am Leben sind und es vielleicht nur noch ganz wenige persönlich erfahren, dass sich der Staat ihrer annimmt, so tun wir das nicht nur wegen uns selbst, sondern auch wegen der Achtung vor den Werten, die dieses Grundgesetz ausmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Deswegen freue ich mich – auch wenn „Freude“ vielleicht das falsche Wort ist –, dass wir gemeinsam heute weitere Vergangenheitsaufklärung betreiben und damit die Verbrechen so ins Licht der Öffentlichkeit stellen, dass daraus der Anspruch „Nie wieder“ auch heute ein Stück weit stärker zum Tragen kommt. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu dem Antrag.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)