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Michael Brand

Michael Brand: "Dem Totalitarismus entgegenwirken"

Rede zu den Protesten am Platz des Himmlischen Friedens

Im Vorfeld dieser Rede habe ich einen Freund gebeten, eine spontane kleine Umfrage zum Thema zu machen. Die Frage lautete ganz einfach: Was fällt Ihnen spontan ein beim Wort „Tiananmen“? Quer durch Deutschland und quer durch das politische Spektrum. Ganz normale Leute, keine Funktionäre.

Hier sind einige Auszüge aus den Antworten:

60 Jahre alt: „Peking, Demokratisierungsversuch, Studenten, Massaker; damalige kommunistische Führung der DDR verteidigt das; wird in China totgeschwiegen bis heute.“

45 Jahre alt: „Der Platz des Himmlischen Friedens. Mehrere 1 000 Studenten zusammengeschossen. Dann verschwiegen.“

25 Jahre jung: „Habe mir dazu viele Stunden auf YouTube angesehen; Tausende Tote, Massaker, Demokratie niedergeschlagen.“

18-jähriger Student: „Massaker“.

China muss, bis heute, damit leben: keine Offensive des Lächelns, keine Seidenstraßen-Initiative, keine Milliardenkredite, kein politisch noch so massiver Druck und keine noch so massive Propaganda können das Zeichen auf der Stirn der kommunistischen Führung löschen, das sie mit diesem Verbrechen historischen Ausmaßes auf dem Platz des Himmlischen Friedens sich und ihrem Land angetan hat.

Das Massaker vom Juni 1989 wiegt auch für die Zukunft schwer: Solange sich die kommunistische Führung diesen Verbrechen nicht stellt und sie aufarbeitet, steht sie unter Verdacht, solche Verbrechen wieder begehen zu können. Denn die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf spielt sich nicht nur in Asien ab.

Ob Pakistan, Myanmar, viele afrikanische Länder und auch hier in Europa – immer mehr Länder stellen sich immer deutlicher die Frage: Wie viele Zähne – im Klartext: wie viel Brutalität – wird diese rücksichtslose kommunistische Führung ausüben, wenn sie nicht mehr auf Augenhöhe, sondern von oben herab mit Menschen oder auch mit Staaten umgeht? Schon heute gibt es Proteste in vielen Ländern, die China – oder besser: die Kredite Chinas – zunächst mit offenen Armen empfangen hatten.

Der ökonomische Aufstieg Chinas ist verbunden mit steigender Gefahr für die Stabilität der Region und mit steigendem Risiko für die Menschen unter Chinas Kontrolle. China gilt schon lange sehr vielen Beobachtern und Experten als Wolf im Schafspelz. Die kommunistische Führung ist eben nicht eine Führung der Modernisierung. Sie ist zunehmend die Führung eines aggressiven Nationalismus nach außen und wieder zunehmend repressiver Kontrolle nach innen.

Dies war und ist grundgelegt in der Diktatur des Proletariats. Kommunismus und Freiheit sind wie Feuer und Wasser. Darüber kann die wirtschaftliche Dynamik nicht hinwegtäuschen – eine Dynamik, die durch eine wirtschaftliche Öffnung in Richtung Westen im Jahre 1979 begonnen wurde und die nur zehn Jahre später brutal erstickt wurde.

Diese brachiale Niederschlagung der Freiheit zeigt nur die Angst der Funktionäre vor dem eigenen Volk. Und die Proteste von damals und die danach zeigen deutlich, dass es eben nicht in der Kultur der Chinesen liegt, sich unterdrücken zu lassen.

Auch die maximale digitale und personelle Überwachung heute, nicht nur der Uiguren, nicht nur des gesamten Internets – was selbst den Kommunisten nicht vollständig gelingt –, zeigt, dass Angst vor dem eigenen Volk und vor freiheitlichen Ideen ein wesentlicher Zug der kommunistischen Führung geblieben ist.

Die Tatsache, dass die kommunistische Führung es bis heute nicht wagt, die Wahrheit über die brutale Ermordung von bis zu 5 000 überwiegend jungen, fröhlichen und optimistischen Menschen in einer einzigen Nacht auch nur von den Familien der Opfer erinnern zu lassen, zeugt ebenfalls von dieser großen Feigheit und Angst vor dem eigenen Volk. Dieses Fanal, diese totale Niederschlagung, bleibt zugleich die totale Kapitulationserklärung der kommunistischen Führung.

Historisch hat es ein solches Menschheitsverbrechen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an keinem zweiten monumentalen Platz der Erde gegeben. Weder am Roten Platz in Moskau noch an anderen symbolischen Plätzen haben selbst brutale Regime sich so entäußert, so entblößt.

Ja, es gab die vielen Millionen Toten der chinesischen sogenannten Kulturrevolution – die nichts mit Kultur zu tun hatte und nichts anderes war als ein Ausbruch an Barbarei der maoistischen Führung.

Ja, es gab und es gibt die ganzen Kriege, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf den verschiedenen Kontinenten unserer Erde geführt worden und geführt werden.

Ja, es gibt die Massaker, die Kriegsverbrechen, von Srebrenica über die Verbrechen an den Rohingya, die Verbrechen des Stalinismus, die Massaker von Saddam Hussein, des syrischen Diktators Assad (des Vaters wie jetzt des Sohnes) und viele staatliche und nichtstaatliche Massaker an der Zivilbevölkerung.

In allen diesen Vergleichen sticht das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens heraus: Es ist die Einzigartigkeit dieses Menschheitsverbrechens, eines Aktes kompletter Barbarei in einer Phase großer Hoffnung und fröhlicher Atmosphäre, das in Brutalität wie im Ausmaß eine solche Ausnahme bildet.

So ist es auch kein Wunder, dass weltweit selbst heute 18‑Jährige diesen Platz nicht etwa mit Glanz und Gloria des heutigen China oder gar mit dem Führerkult in China verbinden, sondern mit der Fratze des kommunistischen Regimes und seiner Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, vor allem gegen die eigene Jugend.

Wir wissen, dass die chinesische Führung bis ins kleinste Detail und weltweit alles in Gang zu setzen versucht, um die Kontrolle über den Diskurs zu erreichen. Sie versuchen mit allen Mitteln, die brutale Wahrheit über den Charakter des Regimes vor dem eigenen Volk zu verbergen. Sie versuchen, die wirtschaftlichen Erfolge als Mantel über die interne Brutalität zu decken.

Nach dem Motto von Bertolt Brecht „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ versuchen die Kommunisten, die eigene Bevölkerung und die Welt zu manipulieren, damit ihre Brutalität und auch das steigende Risiko für eine neue Weltordnung mit einer starken Weltmacht China übertüncht werden.

Die Führung versucht, durch lockende Angebote an die kapitalistische Welt in China und mit China enorme Profite zu machen, einen Grundpfeiler der freien Welt und der aktuellen Weltordnung ins Wanken zu bringen – nämlich Demokratie und Menschenrechte. Sie wollen diese für das Regime gefährlichen Werte kaufen, sozusagen zu einer austauschbaren, zu einer handelbaren Ware degradieren.

Bisweilen gelingt es der chinesischen Führung, mit Verweis auf wirtschaftliche Chancen den Freiheitsdrang der eigenen Bevölkerung zu dämpfen. Auch gelingt es vereinzelt, mit Drohung von Sanktionen und Locken mit Profit die in der UN-Charta garantierten Freiheitsrechte und sogar die Unabhängigkeit anderer Staaten zu reduzieren und zu kontrollieren. Allerdings gelingt das nicht immer, und in letzter Zeit immer weniger.

Die chinesische Führung sieht sich national wie international mit steigendem Misstrauen konfrontiert. Dabei rede ich nicht über den Handelsstreit mit den USA. Die Vorwürfe gegen China sind alt. Sie werden inzwischen auch von deutschen Unternehmen erhoben, die sich lange weggeduckt hatten und sich im Kotau vor dem Milliardenmarkt geübt haben. Insgesamt stehen die freie Welt und die Welt insgesamt vor einer Kardinalfrage: Wie halten wir es mit der drohenden Gefahr einer neuen, einer unfreien, einer autoritären Weltordnung?

China ist nicht die einzige Bedrohung der freien Weltordnung und des freien Welthandels. Aber das Regime in Beijing ist die mit Abstand größte Bedrohung, nach innen wie immer mehr auch nach außen. Alles, was nach der Niederlage der Nationalsozialisten und der Überwindung von Stalinismus und Kommunismus in Europa und auch in vielen anderen Teilen der Welt an Freiheit, an Wohlstand und an Verbesserung der Lebensverhältnisse erreicht wurde, steht mit dieser erstarrt-dogmatischen, nationalistischen und im Kern brutalen chinesischen Führung in den nächsten Jahrzehnten auf dem Spiel. Dies im Zusammenhang mit dem Gedenken an das Massaker von vor 30 Jahren für die kommenden 30 Jahre, und weit darüber hinaus, wach im Gedächtnis zu behalten und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, das ist die Kardinalaufgabe, der wir uns stellen müssen und werden.

China will den Wandel. China braucht den Wandel: ökonomisch, ökologisch und darüber hinaus.

Aber die aktuelle chinesische Führung will nicht den Wandel zu mehr Freiheit, zu mehr Menschenrechten, zu mehr geistiger und kultureller Autonomie. China unterdrückt religiöse Minderheiten, besetzt fremde Länder, droht selbst kleineren Akteuren in Europa und überall auf der Welt, wenn man der Doktrin, dem kommunistischen Machtanspruch des Regimes, in die Quere zu kommen droht.

Das Gedenken an das Massaker von 1989, als sich auf dem wichtigsten Platz Chinas 1 Million Menschen für die Freiheit versammelt hatten, ist nicht nur wegen der vielen Tausend Opfer in dieser einzigen Nacht von so großer Bedeutung.

Es ist auch für uns in der freien Welt deshalb von so großer Bedeutung, weil uns das Verschweigen, das Manipulieren und die Drohung gegen alle, die nichts als die Wahrheit über dieses Menschheitsverbrechen fordern, zu Wachsamkeit auffordern.

China ist alles andere als ein gleichwertiger Partner der freien Welt. Das heutige China ist eine Lokomotive der Weltwirtschaft. Das heutige China ist eine Bedrohung der freien Welt.

Das Massaker von 1989, die Unterdrückung der Kulturen, die Besetzung Tibets und die Unterdrückung der tibetischen Kultur, die Verfolgung und Liquidierung politischer Gegner national und international und der Versuch, selbst Abgeordnete des Deutschen Bundestages unter Druck zu setzen, belegen eindeutig: Das aktuelle China hat die Lektion der Geschichte nicht gelernt.

Die kommunistische Führung dieses großen und großartigen Landes hat sich das Land zur Beute gemacht, und sie hat nichts weniger im Sinn als totale Kontrolle über 1,3 Milliarden Chinesen und möglichst eine kommende neue Weltordnung. Autonomie und Freiheit sind Todfeinde des Regimes, und so werden sie auch bekämpft.

Am 3. Juni 1989 wurden viele Hoffnungen auf ein menschliches China brutal zerstört. Am 9. November 1989 fiel der Eiserne Vorhang, die brutalste und gefährlichste Grenze der Welt.

Zwischen dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dem Fall der Berliner Mauer lagen fünf Monate. Niemand hatte das erwartet. Und geschehen ist es trotzdem. Niemand erwartet im Juni 2019, dass China sich öffnet, jedenfalls nicht jetzt. Aber niemand kann darauf setzen, weder international noch selbst, dass in China dieses Regime auf Dauer überlebt. Zu oft in der Geschichte haben diejenigen, mit denen Regime nicht gerechnet haben, die Regime letztlich abgeschüttelt und die Täter zur Rechenschaft gezogen.

Es bleibt unsere Verantwortung, nicht nur an runden Gedenktagen, sondern in einer ebenso langfristig angelegten Strategie, wie es die des kommunistischen Regimes ist, dem Totalitarismus entgegenzuwirken. Die freie Welt hat einen langen Arm, und sie hat einen langen Atem. In der Auseinandersetzung mit autoritären Regimen in Europa und anderswo haben wir dies eindrucksvoll hinterlegt.

Ich bin davon überzeugt, dass wir einen Tag erleben werden, an dem eine Million und mehr Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und andernorts in China und Tibet den Sieg der Menschenrechte gegen brutale Unterdrückung auf friedliche Art und Weise werden feiern können.

Das ist das eigentliche Vermächtnis der 1 Million überwiegend jungen Chinesinnen und Chinesen vom Juni 1989. Dem fühlen wir uns verpflichtet.