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Jürgen Hardt: "Einen neuen Anlauf unternehmen, um einen Konsens zu erreichen"

Rede in der Aktuelle Stunde | Die Eskalation in Idlib und die Folgen für Europa

Ich bedanke mich für das Wort. – Ich möchte an dieser Stelle zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Debatte vor allem zwei Dinge in den Mittelpunkt stellen. Also das, was jetzt als Hufeisentheorie – neudeutsch – verkauft wird, ist aus dem 17. Jahrhundert: Les extrêmes se touchent. – Das haben ein französischer Philosoph namens Pascal und ein anderer namens La Bruyère schon festgestellt. Diejenigen, die radikale, extreme Thesen vertreten, müssen eben damit leben, dass Radikalität von links und Radikalität von rechts durchaus Berührungspunkte zeigen.

(Peter Beyer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wenn man an linken Veranstaltungen, an Strategiedebatten wie in Kassel teilnimmt, wo unakzeptable Dinge vorgetragen werden und von einem führenden Linken in flapsiger Art und Weise gesagt wird: „Na ja, wir müssen die Reichen vielleicht nicht erschießen, aber nützlicher Arbeit zuführen“, dann muss ich Ihnen ganz klar sagen: Mit dieser Haltung können Sie auch ein Konzentrationslager führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der AfD sowie bei Abgeordneten der FDP – Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Unverschämtheit! Das geht überhaupt nicht!)

Davon müssen Sie sich schon ganz klar und eindeutig distanzieren.

Was wir mit Blick auf die Situation in Idlib machen können, möchte ich gerne kurz erläutern. Ich glaube, dass wir dringend einen Waffenstillstand brauchen und den Zugang für humanitäre Hilfe. Ich möchte daran erinnern, dass es wirklich gut wäre, wenn wir es schon vor Jahren geschafft hätten, eine Schutzzone in Syrien einzurichten, in der Geflüchtete sichere Unterkunft und Aufnahme hätten finden können. Dieser Vorschlag ist leider nicht realisierbar gewesen, vielleicht auch deshalb, weil wir in Deutschland und Europa zu zögerlich waren; aber natürlich auch, weil wir in den Vereinten Nationen dafür keine Mehrheit zustande bringen konnten.

Ich glaube, dass wir jetzt einen neuerlichen Anlauf unternehmen sollten, wenn schon keine Schutzzone, so doch ein sicheres Gebiet für die Versorgung der Flüchtlinge aus Idlib auf syrischem Boden zu ermöglichen. Ich hoffe, dass die Gespräche, die heute in Moskau stattfinden, und das, was möglicherweise in den nächsten Tagen auf anderen Ebenen stattfindet, zu einem solchen konkreten Ergebnis führen. Denn die humanitäre Katastrophe, die in Idlib stattfindet und sich fortzusetzen droht, kann auf diese Weise, wie ich finde, wirksam beendet werden. Deutschland sollte, insbesondere wenn es um humanitäre Hilfe geht, nicht an der Seite stehen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung diese finanzielle Zusage gegeben hat.

Mit Blick auf die Türkei bin ich der Meinung: Die Europäische Union sollte der Türkei ganz klar sagen: Wir erwarten eine Rückkehr zu den Regeln des EU-Türkei-Abkommens; aber wir bieten gleichzeitig offene, faire Gespräche darüber an, ob dieses Abkommen möglicherweise weiterentwickelt werden muss. 3,2 Milliarden Euro sind bereits ausgegeben; die zugesagte Summe von 6 Milliarden Euro ist verplant. Gemessen an dem, was wir insgesamt für Flüchtlingsarbeit weltweit und in Deutschland ausgeben, ist die Summe von 3,2 Milliarden Euro der gesamten Europäischen Union in einem Zeitraum von über vier Jahren kein außerordentlich hoher Betrag, der nicht auch aus guten und gerechtfertigten Gründen gesteigert werden könnte. Ich finde, an diesem Punkt sollte es nicht scheitern. Aber eine Voraussetzung dafür, dass wir mit der Türkei wieder in diesen Dialog eintreten, ist, dass die Türkei tatsächlich zu den Regeln dieses Abkommens zurückkehrt und die Provokationen der letzten Tage einstellt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit Blick auf Griechenland glaube ich, dass wir, Deutschland und die Europäische Union, die griechische Regierung aktiv unterstützen sollten, die Grenze, unsere EU-Außengrenze, die unsere gemeinsame Grenze ist, wirksam zu schützen. Ich glaube, dass die Personen, die gegenwärtig versuchen, diese Grenze zu überschreiten, zu 100 Prozent nicht bzw. nicht jetzt aus Bürgerkriegsgebieten in Syrien geflohen sind, sondern bereits seit Monaten oder Jahren sichere Aufnahme in der Türkei gefunden haben.

Sie leben dort nicht unter Umständen, die wir persönlich uns auch wünschen würden, aber doch in einer Art und Weise, dass man das völkerrechtlich als sicher betrachten kann. Ich glaube, nebenbei gesagt, dass unter diesen Menschen nicht so sehr viele sind, die aus Syrien kommen; denn die syrischen Flüchtlinge werden in der Türkei relativ besser betreut als Flüchtlinge aus anderen Gebieten. Ich glaube deswegen, dass das, was wir dort tun, gerechtfertigt ist.

Mit Blick auf die Kinder auf den Inseln glaube ich, dass wir, Deutschland und Europa, vor Ort mehr helfen und mehr tun sollten; aber das können wir eben auch mit der griechischen Regierung gemeinsam vor Ort tun.

Mit Blick auf die Europäische Union wünsche und hoffe ich schließlich, dass das, was in den letzten Tagen in Syrien, aber auch an der türkisch-griechischen Grenze passiert ist, dazu führt, dass wir einen neuen Anlauf starten, um zu einem gerechteren Umgang mit dem Thema Flüchtlinge in der EU zu kommen. Ich hoffe, dass wir einen neuen Anlauf unternehmen, um einen Konsens zu erreichen. Wenn es auch nicht gelingen mag, den Konsens der 27 zu erreichen, so mag es dann doch vielleicht gelingen, einen Konsens der Willigen, der großen und wichtigen Nationen in der Mitte, zu erreichen, die dieses Projekt so voranbringen, dass wir fairer mit den Anliegen Griechenlands und anderer Staaten umgehen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)