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Dr. Ursula Leyen: Es liegt noch ein weiter Weg vor uns

Rede zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung:

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Latte so hoch gelegt haben. – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Afghanistan war in der letzten Woche gleich zweimal Thema im Kabinett: Einerseits haben wir den Perspektivbericht, der Ihnen allen vorliegt, besprochen; andererseits haben wir die Verlängerung und die Anpassung des Mandates für die Resolute Support Mission beschlossen.

Ich möchte zunächst einmal auf den Bericht eingehen. Auftrag war, einen weiten Bogen zu schlagen. Das heißt, der Bericht fängt ganz am Anfang an und erinnert uns daran, dass Ausgangspunkt die schaurigen Anschläge des 11. September 2001 gewesen sind. Infolgedessen haben wir im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan interveniert, um zu verhindern, dass es weiterhin Rückzugsort, Trainingscamp und Schaltzentrale des internationalen Terrors sein kann – was es damals war. Wir haben seitdem mit einem umfassenden und vernetzten Ansatz viel unternommen, um für mehr Sicherheit zu sorgen und dem Land nach vielen Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg wieder auf die Beine zu helfen.

Dieser Perspektivbericht zeigt auch sehr deutlich, dass es Fortschritte, aber auch Rückschläge gibt. Ich möchte auf beides eingehen.

Zunächst einmal zu den Fortschritten. Für die Menschen in Afghanistan ist entscheidend, dass sich ihre Lebensverhältnisse unterm Strich bessern. Die großen globalen Daten der letzten 17 Jahre zeigen: Die Lebenserwartung in Afghanistan ist seit 2001 von 45 Jahren auf 60 Jahre gestiegen. Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist gesunken; die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren hat sich halbiert. Das Bruttoinlandsprodukt ist um das Achtfache gestiegen – sicher von niedrigem Niveau, aber die Richtung stimmt. Das Pro-Kopf-Einkommen ist um das Fünffache gestiegen. Heute gehen 8 Millionen Kinder in die Schule; 2001 waren es nicht einmal 1 Million. Heute sind ein Drittel dieser Schulkinder Mädchen. Hunderttausende junge Männer und Frauen studieren an der Universität in Kabul. Ich selber habe junge Frauen gesehen, die dort Rechtswissenschaften studieren. Eben hieß es zu Recht, dass über 40 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre sind. Man muss wissen, dass die heutige Generation der bis zu 15-Jährigen, soweit sie im schulpflichtigen Alter sind, lesen und schreiben kann; das war 2001 nicht der Fall. Diese jungen Menschen, die nächste Generation Afghanistans, haben damit vollen Zugang zu Informationen. Sie können lesen, was sie interessiert; sie können sich ihre Meinung bilden und dafür auch aufstehen. Das wäre unter den Taliban niemals möglich gewesen, und das kann den jungen Menschen keiner mehr nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Aber es hat ganz ohne Zweifel auch Rückschläge gegeben, auch was die internationale militärische Präsenz angeht, gerade in der sensiblen Zeit des Übergangs vom Schwerpunkt Unterstützung, also ISAF, zur Konzentration auf die Ausbildung, also Resolute Support Mission, in der Phase also, in der die afghanischen Sicherheitskräfte selbst die Sicherheitsverantwortung für das Land übernehmen mussten, und dies bei hohem Druck der Insurgenz. In der Rückbetrachtung muss man sagen – das zeigt dieser Perspektivbericht sehr deutlich –: Die internationalen Kräfte sind zu schnell abgezogen worden, 90 Prozent innerhalb kurzer Zeit. Der Winter 2014/2015 bedeutete für das Land einen tiefen Einschnitt, eine Zerreißprobe mit dem ersten demokratischen Machtwechsel und der gleichzeitigen Übernahme der Sicherheitsverantwortung. Das konnte nicht gut gehen, wenn zur selben Zeit der militärische Druck auf die Taliban nachgelassen und sich insbesondere der Druck aus der Luft verringert hat. Zugleich nahm die neue Regierung der nationalen Einheit damals nur sehr zögerlich Reformen in Angriff. Resultat waren zeitweise erhebliche Sicherheitsdefizite, insbesondere im Jahr 2015, mit dem Verlust einiger Provinzhauptstädte; dazu gehörte vorübergehend auch Kunduz.

Afghanistan hat diesen schwierigen Übergang auch dank der verbliebenen internationalen Unterstützung bisher gemeistert. 2016 sind acht Provinzhauptstädte durch die afghanischen Sicherheitskräfte zurückerobert worden, allerdings mit einer sehr hohen Zahl an Opfern. Heute agieren die afghanischen Sicherheitskräfte mit mehr Engagement und mehr und mehr offensiv, allerdings noch mit hohen Verlusten. 60 Prozent des Landes sind unter der Kontrolle der afghanischen Regierung, und zwei Drittel der Bevölkerung sind geschützt. Das ist nicht genug – aber immerhin! Wir sollten das nicht kleiner reden, als es ist.

Es liegt noch ein weiter Weg vor uns und der internationalen Gemeinschaft. Der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte ist noch lange nicht abgeschlossen. Es ist gut, dass der Aufbau der afghanischen Luftwaffe inzwischen voranschreitet. Der Generationenwechsel innerhalb der Streitkräfte, vor allem im wichtigen Segment der Corpskommandeure, wird langsam eingeleitet. Es ist gut und wichtig und ein couragierter Schritt von Präsident Ghani, dass er jetzt endlich den unverzichtbaren Versöhnungsprozess voranbringen möchte, indem er zu Gesprächen mit jenen Taliban bereit ist, die Gespräche führen wollen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung:

Gerne.

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Meine Zwischenfrage ist auch ganz kurz. Das hört sich zwar alles gut an; aber ich frage Sie: Was ist Ihre Strategie in Afghanistan? Was ist vor allen Dingen die Exit-Strategie? Was muss erreicht werden, damit der Einsatz jemals beendet werden kann?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der Verteidigung:

Erstens. Afghanistan darf nicht wieder zur Brutstätte des Terrors werden. Das heißt, der Terror dort muss nachhaltig bekämpft sein.

Zweitens. Der nachhaltige und langfristige Schutz gegen den Terror ist, dass das Land in der Lage ist, seine eigene Sicherheit in die Hände zu nehmen, und wirtschaftlicher Aufbau und damit Perspektiven für die Menschen möglich ist. Das ist unser gemeinsames Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP])

Zugleich muss – das schließt daran an – eine umfangreiche Reformagenda umgesetzt werden. Ich habe eingangs gesagt, dass die Regierung nur sehr zögerlich die Reformagenda angegangen ist. Ich finde es richtig, dass wir inzwischen dazu übergegangen sind, einen Teil der Entwicklungszusagen an die Umsetzung der Reformagenda, die 2016 verabredet worden ist, zu binden. Es werden jetzt wichtige Schritte eingeleitet; dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Hinblick auf die Bekämpfung der grassierenden Korruption in diesem Land haben inzwischen Audits der internationalen Gemeinschaft im afghanischen Finanz- und Bankensystem begonnen, um nachzuverfolgen, wo die Mittel landen. Eine ganze Folge weiterer wichtiger Reformen ist jetzt in Angriff genommen worden; aber sie wird an Entwicklungszusagen gekoppelt.

Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Mandat wird Deutschland mit der Bundeswehr – wir sind ja Rahmennation für 20 weitere Nationen, die mit uns im Norden tätig sind – die Verantwortung für die Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte behalten. Mir haben bei meinem Besuch in Afghanistan unsere Ausbilder gesagt, dass sie den Auftrag „Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte“ viel besser ausführen könnten, wenn sie denn mehr Schutzpersonal hätten. Mit anderen Worten: Sie erfüllen ihren Ausbildungsauftrag bisher nur etwa zur Hälfte und sind die andere Hälfte der Zeit im Camp, weil sie nicht draußen in den definierten Gebieten sein können, wo die Ausbildung stattfindet. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir die Obergrenze jetzt erhöhen können. Das heißt nämlich, dass wir mehr Guardian Angels, mehr Schutzpersonal, einsetzen können, damit der Auftrag, der uns gegeben ist und den die Ausbilder auch wahrnehmen wollen – das ist ja das Ziel dieses Mandats –, unter dem Schutz von Soldatinnen und Soldaten ausgeführt werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesem Sommer stehen in Afghanistan Parlamentswahlen an. Schon bei der letzten Wahl – daran werden Sie sich erinnern, meine Damen und Herren – sind die Menschen, insbesondere Frauen, trotz der großen Gefahr und der Drohungen, die gegen sie ausgesprochen worden sind, in überwältigender Mehrheit zur Wahl gegangen. Das zeigt, dass die Menschen in Afghanistan ein Leben ohne Angst wollen, ein Leben ohne Terror wollen, nicht unter der Fuchtel der Taliban, sondern frei leben wollen. Sie wollen Perspektive, und sie wollen Teilhabe. Aber die Stabilität in diesem Land mit seiner unendlich rauen Geschichte ist etwas, für das wir strategische Geduld brauchen – gewiss nicht für immer, aber sicher noch für eine geraume Zeit. Richtig bleibt auch nach 17 Jahren, dass ein stabiles Afghanistan auch in unserem Sicherheits­interesse ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)