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Dr. Norbert Röttgen: Wir müssen eine klare Sprache finden

Rede zur Russlandpolitik

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Unterscheidung aufgreifen, die der Kollege Sarrazin gerade in die Debatte eingeführt hat. Diese Unterscheidung ist umso mehr geboten – darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden –, als die Koinzidenz der Themen des heutigen Tages, des Gedenkens heute Morgen an die Opfer des Nationalsozialismus und der jetzigen Debatte über die Russlandpolitik, die historische Dimension des deutsch-russischen Verhältnisses deutlich macht. Es ist die Unterscheidung zwischen Russland und der gegenwärtigen russischen Politik. Das ist eine eminent politische Unterscheidung, und es ist auch politisch, wenn diese Unterscheidung oftmals gerade nicht gemacht wird. Auch das dient politischen Zwecken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte mich zunächst mit der gegenwärtigen russischen Politik beschäftigen und kurz charakterisieren, worin die prinzipielle strategische Veränderung in der russischen Außenpolitik, vor allen Dingen seit jetzt ziemlich genau fünf Jahren, liegt. Was wir festzustellen haben, ist die Verabschiedung Russlands aus der europäischen Friedensordnung. Ich hätte es für völlig undenkbar gehalten, dass es dazu kommt. Wir sehen, dass sich Russland, die russische Politik inzwischen bewusst als geradezu ein Gegenmodell zur liberalen europäischen Friedensordnung entwickelt, ein Modell, das keine internationalen Regeln, auch nicht den absoluten Kernbestand, zu beachten gewillt ist, nicht die Regeln, auf die man sich im Kalten Krieg verständigen konnte, die Schlussakte von Helsinki, nicht die Regeln, auf die man sich mit der Sowjetunion nach dem Ende des Kalten Krieges verständigt hat, die Charta von Paris. Es ist ein Gegenmodell, das nicht bereit ist, das Selbstbestimmungsrecht seiner unmittelbaren Nachbarn, vor allen Dingen der Ukraine, aber auch Georgiens oder eines Landes wie Moldawien, der Republik Moldau, uneingeschränkt zu achten. Dazu ist Russland nicht bereit.

Die Politik Russlands besteht darin, dass eine historische Errungenschaft der Abrüstung, nämlich die Beseitigung einer Kategorie, „nukleare Mittelstreckenraketen in Europa“ – das ist der INF-Vertrag –, durch Russland seit Jahren verletzt wird. Wir haben heute wieder nukleare Mittelstreckenraketen, und zwar durch Russland und nicht auf westlicher Seite. Das ist eine Realität russischer Politik heute.

Wir haben permanent Versuche der manipulativen Einwirkung auf demokratische Prozesse in europäischen und anderen Ländern. Das ist die gegenwärtige Realität russischer Politik.

Diese Realität wird umso herausfordernder, weil sie vielleicht viele Gründe, aber einen Kerngrund hat, nämlich: Diese Politik ist im Kern Substitut für den Mangel an einer Modernisierungsperspektive, die dieses politische System den Menschen nicht geben kann. Damit ruht diese scheinbare Politik der Stärke nach außen in Schwäche im Innern.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)

Auf diesen Widerspruch, mit dieser russischen Schwäche umzugehen, haben weder Wladimir Putin noch der Westen bislang eine Antwort. – Das ist die Lage der westlich-russischen Beziehungen.

Was folgt daraus? Diese Frage hat der Kollege Mützenich gestellt. Es ist erst einmal ein Dilemma, ein Paradox, eine wahnsinnig schwierige Situation und Lage, was man auch aussprechen muss, damit man weiß, worüber man überhaupt redet.

Ich finde, es gibt zwei Schlussfolgerungen daraus, und über die eine herrscht in der Gesellschaft, aber auch im Hohen Haus wirklich Streit. Meine erste Schlussfolgerung ist, dass wir – Deutsche, Europäer, der Westen, die internationale Gemeinschaft – Widerpart gegenüber dem, was ich eben an russischer Politik der Völkerrechtswidrigkeit und gewaltsamen Aggressionen geschildert habe, gegenüber dieser aggressiven rechtswidrigen Politik sein müssen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen es aussprechen. Wir dürfen es nicht beschönigen, wir dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, sondern wir müssen eine klare Sprache finden. Ich will es nicht überhöhen, aber auch insofern leicht an den heutigen Morgen erinnern. Die klare Sprache über Verbrechen ist ein moralisches und politisches Gebot, dem wir unbedingt folgen sollen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der Linken?

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Bitte.

Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE):

Herr Kollege Röttgen, die Linke hält das Völkerrecht immer sehr hoch. Wenn Sie davon reden, dass der Westen das Völkerrecht verteidigt, dann bekomme ich immer etwas Bauchschmerzen; denn viele Völkerrechtsbrüche, sogar die meisten, seit den 90er-Jahren sind vom Westen ausgegangen. Wenn man also selber sozusagen Präzedenzfälle schafft, dann wundert es mich umso mehr, wenn man oberlehrermäßig versucht, Russland zu verurteilen. Wir Linke sagen ja: Das, was mit der Krim geschehen ist, ist ein Völkerrechtsbruch. – Aber Sie haben nicht die Kraft zu sagen: Das, was im Kosovo passiert ist, ist ein Völkerrechtsbruch, der Angriff der USA auf den Irak ist ein Völkerrechtsbruch, die Einmischung in Venezuela ist ein Völkerrechtsbruch. – All das sind Sie nicht in der Lage zu verurteilen. Dieser Doppelstandard ist sehr ärgerlich, und die Menschen merken es, dass hier mit gezinkten Karten gespielt wird. Warum haben Sie nicht die Kraft, mit einheitlichen Maßstäben zu arbeiten?

(Beifall bei der LINKEN und der AfD)

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Ich muss diesen Vorwurf zu meinem wirklichen Bedauern geradewegs an die Linksfraktion zurückgegeben. Sie haben das Stichwort „Venezuela“ gerade genannt. Wenn es in diesem Haus eine Fraktion gibt, die sich an die Seite des Diktators Maduro stellt, seine Verbrechen beschönigt – die Zitate könnte ich alle bringen –, dann ist es die Linksfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Nein, nein, nein!)

Sie haben doch in diesen Tagen die Gelegenheit, sich für Menschenrechte einzusetzen. Sie setzen sich selektiv für Menschenrechte ein. Wenn etwas aus der kommunistischen Ideologie in dieser Welt, wo sie denn überhaupt noch besteht, kommt, dann empfinden Sie Sympathien.

(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ist ja Unsinn!)

Sie können sich bei diesen Sympathien und was die Verteidigung solcher Systeme angeht, noch nicht einmal in Deutschland beherrschen.

Warum ist es „oberlehrerhaft“? Das ist eine typische und allgemeine Diffamierung derjenigen, die etwas über Menschenrechtsverletzungen in Russland, über Aggressionen, über Kriegsführung sagen. Derjenige, der diese Wirklichkeit ausspricht, wird immer sofort als Oberlehrer, als belehrend, als aggressiv und konfliktschürend beschrieben. Nein, es ist das Reden über die Realität, und das sollten wir machen.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist das!)

Im Übrigen haben wir hier überhaupt keine Belehrung, schon gar nicht von Ihnen, nötig, was den Einsatz für völkerrechtliche Fragen anbelangt. Ich bezeichne schon seit langem und immer wieder die Intervention der Amerikaner im Irak als den größten Fehler amerikanischer Außenpolitik seit dem Vietnamkrieg. Ich habe damit überhaupt keine Probleme. Sie hören auch aus dieser Fraktion Kritik an der gegenwärtigen amerikanischen Außenpolitik. Wir sehen, dass man in der Außenpolitik immer wieder mit Dilemmasituationen zu tun hat und nicht jeder Fall nach einem bestimmten Muster behandelt werden kann. Aber unsere Fraktion, die vier Fraktionen im Zentrum dieses Hauses – ich glaube, ich kann das für sie so in Anspruch nehmen, also für 80 Prozent in diesem Haus – setzen sich hier ehrlich für Menschenrechte und Völkerrecht ein. Das sollten wir alle gemeinsam betonen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich komme zurück zu meinem Ausgangspunkt. Ich glaube, Widerpart zu sein, gehört dazu. Aber Widerpart zu sein, ist nicht unser Ziel. Wir wollen nicht Widerpart sein, sondern unser Ziel in unserem Verhältnis gegenüber Russland sind Kooperation und Partnerschaft. Das ist das, was wir wollen. Aber das zu erreichen, ist schwierig. Über diese Schwierigkeiten möchte ich abschließend reden.

Wie können wir das verbessern? Ich glaube, dass wir insgesamt Einheit bewahren müssen. Wenn wir wirksam gegenüber Russland sein wollen, dann wird das nicht über einen deutsch-russischen Sonderweg gehen – auch wegen der historischen Belastung; darum sind diese Plädoyers immer falsch –, sondern nur über eine westliche, eine europäische Politik gegenüber Russland. Einer der Erfolge deutscher Russland-Politik ist es – dafür haben wir gearbeitet –, dass wir eine europäische Einheit und Einheitlichkeit gegenüber Russland erreicht und aufrechterhalten haben. Das wichtigste psychologische Element der Sanktionen ist nebenbei die Demonstration der Einheit des Westens, der Europäer in der Nichtduldung der rechtswidrigen Praktiken Russlands. Diese Demonstration ist das Entscheidende. Es darf nicht nur leere Worte geben, es muss auch Konsequenzen haben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In Europa verweigert sich Russland der Kooperation. Das ist die Realität. Die Ausweitung des Konfliktes im Asowschen Meer ist das jüngste Beispiel dafür, dass Russland leider nicht zur Kooperation bereit ist. Unsere Hand gegenüber Russland bleibt trotzdem ausgestreckt.

An anderer Stelle kommen nur die USA als Partner infrage. In Syrien zum Beispiel, glaube ich, wäre Russland interessiert, die militärischen Erfolge – ich habe eben geschildert, wie sie erreicht worden sind – in politische Gewinne umzumünzen. Doch dafür bräuchten sie einen Partner. Die EU ist nicht partnerfähig. Die USA machen stattdessen eine Rückzugspolitik. Das ist ein großes Problem im Verhältnis zu Russland. Beim INF-Vertrag sind der Vertragspartner Russlands die USA. Russland verletzt diesen Vertrag, die USA möchten ihn kündigen. Die Europäer sind nicht im Spiel.

Aber wir können ins Spiel kommen; das ist meine letzte Anmerkung. Auch hier ist unsere Aufgabe für eine wirksame Politik gegenüber Russland, dass wir uns weiter dafür einsetzen, dass es eine europäische Russland-Politik gibt. Die Europäer müssen im Verhältnis zu Russland wie im Verhältnis zu den USA und China endlich zu einem außenpolitisch handlungsfähigen Akteur werden, ansonsten werden die Europäer keine relevante Rolle mehr einnehmen. Das ist mein ultimativer Appell, wenn es um unser Verhältnis zu Russland geht: Wir müssen alles dafür tun, dass es weiterhin eine einheitliche europäische Haltung und Politik gegenüber Russland gibt.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)